Was gilt in der Musiktheorie als „modern“ und was als „veraltet“?

 

Ziel des Harmonielehre ist es nach Hugo Riemann, "einen korrekten vierstimmigen Satz in den vier Singschlüsseln wie auch für transponierende Orchesterinstrumente in wenigen Minuten auszuarbeiten oder einen bezifferten Choral ohne Besinnen transponiert am Klavier vierstimmig zu spielen." (Hugo Riemann, Handbuch der Harmonielehre, 3. Auflage 1897, Vorwort Seite VII).

 

Es ist legitim, die Zeit zwischen 1700 und 1900, die im „klassischen“ Konzertleben durch den „Kanon der Musikwerke“ präsent ist, durch ein Musikdenken zwischen Andreas Werckmeister und Hugo Riemann zu beschreiben. Demgegenüber ist vielfach die Meinung vertreten worden, dass dieses historische Musikdenken heute nicht mehr im Zentrum einer „modernen Auffassung“ von analyseorientierter Musiktheorie bzw. von Tonsatz steht. Das scheint recht willkürlich, denn warum sollte man dieses ältere Musikdenken als existierendes historisches Faktum abwerten und analyseorientierten Auffassungen des 20. Jahrhunderts überbewerten? Nur weil es im Nationalsozialismus einen Kampf gegen diese „modernen Auffassungen“ gegeben hat? Ebenso könnte man den Präsidenten der Reichmusikkammer, Peter Raabe, dafür verantwortlich machen, dass sich der Werkbegriff der deutschen Musik gegenüber dem nicht-werkorienten „Gejaule der Niggermusik“ oder anderer „primitiver Kulturen“, deren Kultur nicht auf Musikwerken basiert, durchgesetzt hat. Die Musikkulturen, deren Musikpraxis nicht auf „Werken“ basieren, haben durch den Einfluss der Nazis bis heute in den Musikhochschulen einen schweren Stand oder werden gänzlich ignoriert.

 

Wenn man - ähnlich wie in der historischen Aufführungspraxis üblich - das Musikdenken zwischen 1700 und 1900 rekonstruieren würde, wäre man dem Geist dieser historischen Zeiten näher. Warum wollen wir die Methoden einer angeblich „Modernen Musiktheorie“ der Musikgeschichte jenseits des 20. Jahrhunderts aufzwingen und das ältere Verständnis von Musiktheorie im Sinne des o.g. Riemannzitates als „veraltet“ oder diese Klavierpraxis sogar als „nationalsozialistisch“ disqualifizieren. Es scheint im gewünschten Diskurs nur die vier Alternativen zu geben, Musiktheorie entweder aus ihren Nachkriegsentwicklungen, aus ihren nationalsozialistischen Wurzeln, aus den theoriegeschichtlichen zwischen 1900 und 1930 oder ihren jugendmusikalischen Wurzeln zu beschreiben. So interessant es sein mag, wenn Musiktheorie ihre eigene Historie des 20. Jahrhunderts beschreibt, im Zentrum ihrer Bemühungen muss, sofern sie sich der Zeit zwischen 1700 und 1900 widmen will, das vielfältige Musikdenken einer Zeit stehen, dem eine visuell-analyseorientierte Werkbetrachtung sehr fremd ist und die sich deshalb durch diese Methode nur sehr unvollkommen erfassen lässt. Da wäre vielleicht die „Höranalyse“, wie sie beispielsweise bei Mozart bezeugt ist, eine adäquatere Methode. Auch Schumann könnte hier zitiert werden: Die MUSIKALISCHE HAUS- UND LEBENSREGELN beginnen mit dem Satz "Die Bildung des Gehörs ist das Wichtigste." Am Anfang war also nicht das Wort, die Schrift oder das Werk, sondern das Gehör!

 

Demgegenüber steht ein Verständnis von Tonsatz bzw. Musiktheorie, wie es erst im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss des visuellen Denkens entwickelt wurde, das sich an der Gleichschaltung des Musiklebens durch das Diktat des visuellen Werkbegriffs orientiert. Dies zeigt sich beispielsweise in einem Konzept von Kabisch/Mäkelä/Meine „Die gemeinsamen Aufgaben und Arbeitsbedingungen von Musikwissenschaft und Musiktheorie an Musikhochschulen und Universitäten mit künstlerischer Ausbildung(Entwurfsfassung Oktober 2003), in welchem behauptet wird, dass sich die künstlerische Praxis, die Musikwissenschaft und die Musiktheorie „um musikalische Werke bemühen“. Es wird z.Zt. diskutiert, ob dies der Standpunkt der Bologna-Arbeitsgruppe der GMTH unter der Leitung von Herrn Rohringer ist (Februar 2006).

 

Es kann z.B. durch die in den unten aufgeführten Artikeln genannten Quellen als erwiesen gelten, dass der Werkbegriff des 20. Jahrhunderts, z.B. im Sinne eines Kanons der europäischen Kunstmusik zwischen Bach und Brahms nicht dem Musikdenken früherer Zeiten entspricht. Der positivistisch verstandene Werkbegriff im Sinne des schriftlich überlieferten Opus spielt bis zum Ende des 19. Jahrhundert eine untergeordnete Rolle. So hatte beispielsweise Liszt einen recht improvisatorischen Umgang mit dem „Originaltext“ der „großen Meister“. Wer sich in Historisches Musikdenken einfühlen will, muss diesen Aspekt als Faktum ernst nehmen. In der Barockzeit verstand sich der Musiker als Handwerker, der die Werke anderer Musiker studierte, um sein eigenes – vor allem improvisatorisch verstandenes -  Handwerk zu verbessern, denn man könne „von denen gute Manieren und Inventiones sehen / und sich dieselben zu Nutze machen.“ Als unantastbarer Kanon wurde bis zur Barockzeit lediglich die Bibel und nicht sämtliche schriftlichen Erzeugnisse vergangener Zeiten als „Heilige Schrift“ gewertet. Und diese Tendenz setzt sich selbstverständlich in der noch ferneren Vergangenheit fort. So ist es nur allzu konsequent, wenn die Schola Cantorum in Basel den Zugang zur ´“Alten Musik“ nicht nur über die Werkausgaben sucht, sondern wesentlich auch über die Rekonstruktion der improvisatorischen Aufführungspraxis jenseits der Notenschrift. Man wird nicht zu einem der Musikgeschichte adäquaten historischen Denken kommen, wenn man alles nur durch die Brille der „modernen Musiktheorie“ sieht und die Werkausgaben zum Zentrum der Lehre und Forschung machen will. Da es unstrittig ist, dass Improvisation bei Bach, Mozart, in „Alter Musik“ und insbesondere in noch älterer Musik im Mittelpunkt des Musikdenkens stand, führt die Fixierung auf den Werkbegriff hier zu einer Entstellung der tatsächlichen Musikpraxis und versagt vollständig!

 

Ich wäre missverstanden, wenn man unterstellen würde, dass mein Plädoyer die spannenden Diskussionen am Anfang des 20. Jahrhunderts (musikpsychologische Hörtheorien von Riemann, Kurth, Stumpf u.v.a) als überflüssig bezeichnen will, aber derartige werkorientierten Betrachtungen können das der schriftlosen Musikpraxis zugrunde liegende Musikdenken bis ca. 1850 nicht ersetzen.

Die Reflexionen über die Spezifika der schriftlosen Kunst führen zu einem Verständnis eines Zitates von Sokrates, den Plato in Phaidros 274c-278b sagen lässt: "Wer denkt, er könne seine Kunst in Geschriebenem hinterlassen, und wer es aufnimmt mit der Meinung, etwas Klares und Zuverlässiges sei aus dem Geschriebenen zu entnehmen, der ist von reichlicher Einfalt belastet..."

Weitere Ausführungen zu dieser Thematik:

  1. Vom Einfluß der Improvisation auf das Musikleben des 19. Jahrhunderts (Vortrag im Rahmen des Romantik-Projektes / Prof. Dr. Wolfgang Rüdiger an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf)
  2. Zwei Module à 25 Lektionen zur „wahren Art“ (C. Ph. E. Bach „Versuch…“ 1753/1762), das Instrument zu spielen
  3. Indizien für die Qualitäten eines Musikers nach Andreas Werckmeister 1698/1702
  4. Improvisation im Kontext oraler europäischer und außereuropäischer Kulturen (Vortrag beim 4. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Musiktheorie in Köln 14.-17.10.2004)