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Klavierunterricht bei Johann Sebastian Bach: Improvisationsunterricht ohne Lehrbuch

Die folgenden Eintragungen in das zweite "Klavierbüchlein der Anna Magdalena Bach" (1725) sind mit großer Wahrscheinlichkeit Aufzeichnungen aus dem mündlich erteilten Clavierunterricht durch Johann Sebastian Bach. Für ihn war es wichtig, dass seine Schüler vor dem Spezialstudium kontrapunktischer Details sich zunächst Grundkenntnisse und vor allem praktische Fähigkeiten des Generalbass-Spiels erwarben. Der Generalbass wiederum galt als Vorraussetzung zum Verständnis des Klavierspiels im Sinne eines improvisatorsichen und komposi torischen Denkens. Der Zeitgenosse Andreas Werckmeister liefert ausführliche Hinweise auf dieses barocke Musikdenken, welches dem heutigen Verständnis vom Virtuosen als primär technisch geschultem Musiker entgegengesetzt ist.

S. 123: Eintragungen des Sohnes Johann Christoph Friedrich:

Einige höchst nöthige Regeln vom General Basso. di J. S. B. [1]

Scalae

Die Scala der 3 maj.[2] ist, tonus, 2de ein gantzer Ton, 3 ein gantzer, 4 ein halber, 5 ein gantzer, 6 ein, halber[3]  Ton) 7 ein gantzer ton,  8va ein gantzer[4] Ton;

 

die Scala der 3 min: [5]ist, tonus, 2de ein gantzer Ton) 3 ein halber, 4 ein gantzer, 5 ein gantzer, 6 ein halber, 7 ein gantzer, 8va ein gantzer Ton;

 

hieraus fließet folgende Regull:

Die 2te ist in beyden Scalis groß, die 4 al1ezeit klein[6], die 5 und 8va völ1ig, und die 3. ist, so sind auch 6. und 7.

 

Der Accord besteht aus 3 Tonen,  nehmlich 3, sie sey groß oder klein, 5. und 8. als, c. e. g. zum c.

 

______________________________________

 

S. 124:  Eintragungen in das zweite "Klavierbüchlein der Anna Magdalenea Bach" (1725) in der Handschrift von Mutter Anna Magdalena  

Einige Reguln vom General Baß.

1) Jede Haubt Note hat ihren eignen Accord; er sey nun eigenthümlich [7] , oder entlehnet [8] .

 

2) Der eigenthümliche Accord einer Fundamental Note[9] bestehet aus der 3.5. u. 8.

NB. Von diesen dreyen specibus, läset sich Keine weder die 3.[10] ändern, als welche groß und klein werden kan, dahero major und minor genennet wird.

 

3) Ein entlehnter Accord bestehet darinnen, wenn über einer Fundamental Note andere species, als die ordinairen befindlich.

 

                           

 

6

6

6

5

7

9

 

als:

4,

3,

5,

4,

5,

7,

etc:

 

2

6

3

8

3

3

 

 

 

4) Ein # oder b. über der Note al1ein, bedeutet daß durchs #. 3. major und durchs b. 3 minor zu greifen sey, die andern beyden Species aber firm bleiben.

 

5) Eine 5. al1eine, wie auch die 8. al1eine wollen den gantzen Accord haben.

S.125

6) Eine 6. al1eine, wird begleidet auff dreyerley arth: Als 1) mit der 3. u. 8, 2) mit der doppelten 3. 3) mit vertoppe1ter 6. und 3.

NB! wo 6 maj: und 3. minor zugleich über der Note vorkommen[11] darff man ja nicht die 6. wegen übellautes, dupliren, sondern muß an statt deren die 8. u. 3 dar[zu]gegriffen werden.

 

7) 2 über der Note wird mit verdoppelter Quin[12]t accompagniret, auch dann und wan, mit der 4 u. 5. zugleich; nicht selten zu weillen.

 

8) die ordinare 4. zu mahl wenn die 3. darauf folget[13], wird mit der 5. u. 8 vergesellschafft. ist aber durch die 4+ ein Strich, so greifet mann 2. u. 6. darzu.

 

9) die 7. wird auch auf 3erley arth accompagn: 1) mit der 3. u. 5. 2) mit der 3. u. 8. 3) wird die 3. dupliert.

.

10) die 9 scheinet zwar mit der 2. eine Gleicheit zuhaben, u. ist auch an sich selbst die verdoppelte 2. al1eine dieses ist der unterschied daß gantz ein ander accomp: darzu gehört nem1ich die 3, u. 5. dann u. wann auch statt der 5 eine 6. aber sehr selten

 

 

11) Zu

4

2

 

 

 

greiffet  man die 6. auch zuweilen statt der 6. die 5.

 

 

12) Zu  

5

4

wird die 8. gegriffen, u. die 4 resolvieret sich unter sich in die 3.

 

13) Zu 

6

5

greiffet man die 3; sie sey nun major oder minor.

 

14) Zur

7

5

greiffet man die 3.

 

15) Zur

9

7

gehöret die 3.

 

Die übrigen Cautelen[14], so man adhibiren[15] muß, werden sich durch mündlichen Unterricht[16] besser weder[17] schrifft1ich zeigen.



[1] Dieser kurze text handelt vom Tonleiter- und Dreiklangsaufbau (Die Schriftzüge entsprechen allerdings nicht denen von J.S. Bach)

[2] Scala der 3 maj = Durtonleiter

[3] Offensichtlich handelt es sich hierbei um einen Druckfehler, denn so ergäbe sich eine kleine Sexte in der Durtonleiter?

[4] Wieder ein Druckfehler?

[5]  Scala der 3 min = Molltonleiter

[6]  Gemeint ist offensichtlich die reine Quarte

[7] eigenthümlicher Accord= Grundstellung des Akkordes (s.a. Kirnberger, Die Kunst des reinen Satzes, S. 248)

[8] entlehneter Accord = Umkehrung des Akkordes (s.a. Kirnberger, Die Kunst des reinen Satzes, S. 248)

[9] Fundamentalnote = hier: Basston des Akkordes

[10] Keine weder die 3. = nur die Terz

[11] Die Funktionsbezeichnung für diesen Akkord: Verkürzter D7 mit Quint im Bass, bei dem die dominantische Terz nicht verdoppelt werdensoll.

[12] Die Funktionsbezeichnung für diesen Akkord: Akkord mit Quartvorhalt im bass

[13] =Quartvorhalt in den Oberstimmen

[14] Cautelae= Vorsichtsregeln

[15] adhibiren= anwenden, heranziehen

[16] Der mündliche Unterricht war die übliche Unterrichtsmethode, in der offensichtlich keine Lehrbücher, sondern allenfalls kleine „Merkzettel“ wie der vorliegende verwendet wurden.

[17] weder=als