Indizien für die Qualitäten eines Clavier-Spielers nach Andreas Werckmeister 1698/1702
zur homepage Lutz Felbick weitere Vorträge/ Veröffentlichungen
Inhalt
A) Terminologie und Zielsetzung
B) Harmonologia musica (1702)
C) Erweiterte Orgelprobe (1698)
D) Die nothwendigsten Anmerckungen [...] General-Bass (1698)
E) Cribrum musicum (1700) [Johann Kuhnau, Der musicalische Quacksalber 1700, "Der wahre virtuose"]
F) Anhang: Quellen zur Frage des Fundamentalbasses und der Temperatur in Werckmeisters Schriften [Hypomnemata musica (1697); Musicalische Paradoxal-Discourse (posthum 1707)]
A) Terminologie und Zielsetzung
In den folgenden Originaltexten des Musikers und Musiktheoretikers Andreas Werckmeister (1645-1706) erscheinen viele Begriffe in einer von der heutigen abweichemden Bedeutung.
Zur Zeit Werckmeisters war ein "Clavier" in Instrument mit einer Claviatur (Orgel, Cembalo etc.)
"Claves" sind die Tasten eines Claviers, die einer Tonstufe im Tonsystem bzw. einem Tonbuchstaben zugeordnet sind. "Clavis" wird in den musiktheoretischen Schriften des 18. Jahrhunderts auch im Sinne der heutigen Notennamen verwendet, allerdings ist "Clavis" niemals die stumme visuelle Erscheinung einer Note, sondern ist immer mit einer Klangvorstellung verbunden.
Auch der Begriff "Composition" erscheint in einer Bedeutung, die uns heute fremd ist. Komponieren ist hier im Sinne der Entwicklung eines Kompositionsgedankens zu verstehen. Dieser musikalische Gedanke wird dann bei Werckmeister ex tempore klanglich dargestellt. "Seit dem Mittelalter und bis in die 1820er Jahre werden ex tempore und ex improviso auch im Zusammenhang mit einem noch vokabular verstandenen Kompositionsbegriff verwendet." (Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Stichwort Improvisatio)
Ein Clavier-Spieler war deshalb im ursprünglichen Sinne des Wortes ein Componist, der das Handwerk beherrschte, selbständig ein Musikstück aus verschiedenen Claves zusammenzustellen. Seine Fähigkeit besteht darin, zu wissen "wie die Claves miteinander klingen. Deshalb zeichnet er sich dadurch aus, dass er die "Natur des Claviers inne hat.
Daraus folgt, dass die uns geläufige Trennung zwischen Komponist und Interpret dem Musikdenken zur Zeit Werckmeisters fremd war. Es wird deutlich, dass die Fähigkeit eines Clavier-Spielers, "Clavier und Composition zu beherrschen, identisch ist mit der handwerklichen Fähigkeit der Improvisation ("Ex tempore"). Auch an der Fähigkeit des Transponierens erkennt man, "ob ein Organist sein Clavier im Kopfe hat".
Der Begriff des "Virtuosen" in der Barockzeit steht dem heutigen Begriff diametral entgegen. Ein Virtuose war nach Kuhnau ein Musiker, der ex tempore ein Musikstück selbst "componieren" konnte. Derjenige, der nicht improvisieren konnte, galt Anfang des 18. Jahrhunderts als "musicalischer Quacksalber".
Wer Noten ("Tabulaturen") von anderen Komponisten abspielt, setzt sich dem Verdacht aus, ein Betrüger zu sein. Die Zuhörer werden dadurch "hinter das Licht geführet, da der angebliche Kenner von "Clavier und Composition" nur die musikalischen Gedanken von anderen - quasi als Plagiat - nachspielt. Deswegen sei es nötig, dass man sich "ein wenig vorsehen / und nicht jedem Prahler alsobald glauben möchte: Denn viele bilden sich ein / sie wissen schon alles". Wer nicht improvisieren kann, bleibet immer "an der Tabulatur hangen / stümpert so etwas hin / und kömmt nicht weiter. (§128, bzw. Orgelprobe S. 76-78)
Der Begriff "Wissenschaft" war nicht notwendig daran gebunden, umfangreiche Literaturkenntnisse zu besitzen, sondern wurde sehr wörtlich verstanden. Wenn jemand alles weiß, was zur Ausübung seines Handwerks nötig ist, hat er eine große Wissenschaft von seinem Handwerk.
Die konkreten Fähigkeiten Clavier-Spielers gliedern sich nach Andreas Werckmeister - neben der allgemeinen musikalischen Kenntnis - in folgende Bereiche:
Obligat:
Optional:
Die Zielsetzung dieser Veröffentlichung besteht darin, Texte zusammenzustellen, die Hinweise auf ein anderes Musiker-Verständnis geben, das dem Mainstream des heutigen Musiklebens entgegensteht. Der ideale Musicus in der Barockzeit ähnelt kaum dem heutigen Konzertpianisten oder Cembalisten, der sich dem 18. Jahrhundert angeblich unter dem Aspekt der historischen Aufführungspraxis adäquat nähert. Die hier aufgeführten Quellen liefern Hinweise darauf, dass die Arbeitsweise und das Musikverständnis eines Barockmusikers vielmehr der eines Jazzmusikers ähnelt.
B) Harmonologia musica oder kurtze Anleitung zur musicalischen Composition, wie man vermittels der Regeln und Anmerckungen bey den General-Baß einen Contrapunctum simplicem mit sonderbahrem Vortheil durch drey Sätze oder Griffe Componiren und ex tempore spielen: auch dadurch im Clavier und Composition weiter zu schreiten und zu variiren Gelegenheit nehmen könne: benebst einem Unterricht, wie man einen gedoppelten Contrapunct und mancherley canones oder fugas ligatas, durch sonderbahre Griffe und Vortheile setzen und einrichten möge, aus denen mathemathischen und musicalischen Gründen aufgesetzet und zum Drucke heraus gegeben durch Andream Werckmeistern ... Frankfurt und Leipzig, Theodor Philipp Calvisius, Buchhändl. in Quedlinburg Anno 1702.
Nachdruck in: Hypomnemata Musica und andere Schriften, Hildesheim 1970
Kurzbeschreibung der Paragraphen 125-145:
Register / Oder Kurtzer Inhalt dieses Buches: nach den Paragraphis zu finden
Der Nutz zur rechten Anweisung im General Basse 125,126.
Nach der Tabulatur spielen ist sehr gut
Ein Thema anzubringen und zu variieren ist noch besser / und nothwendig dabey. Wie die Kirchen offte im examine und Annehmung eines Organisten betrogen werden 127,128
Wie man einen rechtschaffenen Organisten probieren könne / und was er vor requisita an sich haben müsse 129,130,131,132,133,134,135,136.
Daß hie auch ein Unterscheid zu machen sey 137,138.
Wer extempore ein Thema / oder fugam tractieren will / der muß die Modos dabey verstehen / damit er den Comitem recht setzen könne. Mit Exempeln. 139,140,141,142,143.
Wer die modos nicht verstehet / weiß auch nicht wie weit er die Ausschritte / oder Digressiones machen solle 144
Der Nutz der Theoriae, welche die Unverständigen Schulfüchserey nennen / die Verantwortung dargegen 145
…..
§ 125
Was die rechte Anweisung zum General-Basse vor Nutzen bringe / lehret die Erfahrung: denn es werden erstlich die Discipul zum Fundament der Composition angewiesen; Darnach bringen sie die Claves in dem Verstand / daß sie vor sich Clausuliren / und endlich ein Thema formieren lernen; Dann werden sie auch in der Mensur also exerciret / daß sie mit andern rechtschaffenen Leuten fort kommen können / und also darinnen richtig werden.
§ 126
Die aber hingegen bloß an der Tabulatur hangen / machen bisweilen einen Tact geschwinde; den andern wieder langsam / ja wohl ein vierthel und einen halben Tact / bald langsam bald wieder geschwinde / daß einen die Ohren vor solcher Ungleichheit wehe thun; Dabey observiren sie auch nicht / welche Claves mit einander und wie klingen; Wer aber zu einem jeglichen Clave im General-Basse selber suchet / der lernet noch eher / wie die Claves mit einander klingen / und wie er eine harmoniam recht machen lerne.
§ 127
Ich verwerffe hiermit nicht / wann einer ein gut Stück aus der Tabulatur spielen kan / es ist sehr gut / und halte viel auf gute Tabulatur Sachen / denn man kan daraus sehen / was andere rechtsschaffene Organisten gesetzet haben / und kan von denen gute Manieren und Inventiones sehen / und sich dieselben zu Nutze machen und weiter darauf nachdencken / und Zufälle davon haben.
§ 128
Hingegen muß man sehen / dass man auch extempore ein Thema oder Lied recht anbringe / und variiere; Denn es ist nicht genug, daß man sich mit anderen Federn schmücke: inzwischen wird manche Kirche und Gemeine in der Wahl eines Organisten betrogen / da einer oder der andere etliche studirte Stücke hat in die Faust gebracht / und dieselben hören lässet / da meynet / der es nicht besser verstehet / und so oben hinhöret / es sey der vortrefflichste Künstler / und wann ein solcher vermeynter Künstler durch solche Lehrjungen Probe / befordert wird / so müssen dann die Zuhörer immer mit einerley solcher auswendig gelernten Sachen zufriden seyn; wer aber aus eigenen Kräfften / und Inventionen was machen kan / der kan darnach selber variieren wie er wil.
§ 129
Darum wann man einen rechtschaffenen Organisten probiren wil / so muß man denselben nicht lassen spielen was er wil / man gebe erstlich einen / so sich vor einen perfecten Organisten ausgiebet / zur Probe für / ein Thema zu einer Fuga, daß das selbe auf unterschiedliche Arth tractiret werde.
§ 130
Darnach etwa einen bekannten Choral-Gesang / daß derselbe erstlich auff allerhand Weise variiert werde; Wann dieses geschehen / so können auch darbey die Transpositiones vorgegeben werden / ob / und wie vielmahl solcher Choral könne von den Candidato transponirt werden; könte die Transposition durch das gantze Clavier / nemlich aus allen 12. Clavibus geschehen / so wäre es desto besser / allein es kann von den Hundersten nicht verlanget werden / man kann auch an etlichen Transpositionibus bald mercken ob ein Organist sein Clavier im Kopfe hat. Denn wer gantz nicht fixè transponieren kan / ist ein gewiß Indicium, daß er die Natur des Claviers nicht inne hat / und desselben mächtig sey.
§ 131
Dann muß auch das Examen im General-Basse vorgenommen werden / auch wohl etwas von der Tabulatur, dass man nur siehet / ob er auch dieselbe verstehet: wiewohl hier nicht auffzubauen; denn es kan mancher Discipel und Junge hierinne etwas gethan haben durch das stete Excitium, dennoch kan er nicht eine Clausulam formalem aus eigener Kunst machen / und wann er nicht angeführet wird / bleibet er sein Tage an der Tabulatur hangen / stümpert so was hin / und kömmt nicht weiter.
§ 133
Damit aber von solcher Probe recht geurtheilet werde / so muß auch ein unpartheyischer Censor dabey seyn / so die Composition wohl verstehet; Denn ob schon einander Musicus practicus dabey wäre / kann er doch nicht recht von des Candidati probe urtheilen / ob sie denen Grund-Regeln der Composition gemäß sey oder nicht …“
C) Erweiterte und verbesserte Orgelprobe …, Quedlinburg 1698
Nachdruck in: Hypomnemata Musica und andere Schriften, Hildesheim 1970
Register am Ende des Buches:
"Das 32. Capitel
Meldet etwas von den Eigenschaften und Probe eines Organisten…“
Auszug S. 76-78 :
„Das 32. Capitel
...In zwischen werden in Erwehlung eines Organisten offtmals die Kirchen-Vorsteher hinter das Licht geführet / denn viele Organisten pflegen etliche Tabulatur Stücke auswendig zu lernen / oder setzen die Tabulatur vor sich; In dem sie nun dieselben Stücke durch offters exerciren frisch daher zu spielen pflegen / vermeinet der / so es nicht besser verstehet / die jenigen müßten notwendig gute Organisten seyn / so solche studirte Stücke daher machen / wenn es aber beym Licht besehen wird / so ist derselben Kunst auf einmal heraus geschüttet / und bleibet wohl sein lebelang bey solcher seiner Lehre / u. etlichen aus der Tabulatur studirten Stücken / die er alle Sonn- und Festtage hören lässet / worüber aber den Zuhörern endlich die Ohren weh zu thun pflegen: Drum ist bey dem Examine eines Organisten hoch von nöthen / dass man denselben ein Thema vorgebe welches er auf unterschiedliche Arth ausführe / oder man kann auch einige Lieder erwehlen / und dieselben auf gewisse Arth variieren, und transponieren lassen / wobey auch in des General-Basses Examine muß observiret werden / ob die Signaturen fein accurat getroffen werden / denn es ist bey weiten nicht genug / die Noten im General-Basse / nach dem Tacte ohne Anstoß hinmachen / es müssen die Signaturen wol dabey resolviret werden / sonst wird die gantze Music dadurch verdorben / und irren die jenigen gar sehr / welche sagen / die Signaturen wehren über den Noten des General-Basses nicht nötig / man könte doch wohl zurechte kommen: Diesen Irthum alhier zu wiederlegen / will anietzo die Zeit und Raum nicht zu lassen.
Etliche fallen etwa auf ein Bier-Lied und meinen wenn ein Organist eine Bouree / oder ander Fränzösisch-Lied spielen kann / so kann er grosse Thaten thun / aber dieses machet es lange nicht aus / es gehöret ein vielmehres darzu.
Darum wäre nötig daß man bey einer guten Orgel einen guten Organisten hätte / und daß man sich in Erwehlung desselben ein wenig vorsehen / und nicht jedem Prahler alsobald glauben möchte: Denn viele bilden sich ein / sie wissen schon alles….“
D) Die nothwendigsten Anmerckungen und Regeln, wie der Bassus continuus oder General-Bass wol könne tractiret werden Und ein jeder so nur ein wenig Wissenschafft von der Music und Clavier hat denselben vor sich selbst erlernen könne. Aus dem wahren Fundament der Musicalischen Composition zu besserer Nachricht auffgesezzet und aniezzo mercklich vermehret / und mit vielen Exempeln erkläret durch Andreas Werckmeistern Aschersleben / Verlegts Gottlob Ernst Struntze, 1698. 2/1715. Reprint der Ausgabe von 1698 von Eitelfriedrich Thom, Michaelstein
§ 72
Was die rechte Anweisung zum General-Bass vor Nutzen bringet / lehret die Erfahrung: Denn es werden erstlich die Discipuli zum Fundament der Composition angewiesen: darnach bringet sie die Claves in den Verstand wie einer mit dem anderen klinge / dass sie vor sich clausulieren / und ein Thema führen lernen; Dann werden sie auch in der Mensur exerciret / dass sie richtig wird / ohne welche eine Harmonia kein leben hat.
§ 73
Die aber hingegen bloß an der Tabulatur hangen / machen bisweilen eine Gewohnheit daraus / wenn sie ihre Griffe machen / so nehmen sie dieselben nicht in das Gedächtnis / wie ein Claves gegen den anderen Klinget / wer aber zu dem Fundament-Clave eine Harmonie suchen muß / der lernet noch eher wie ein Sonus gegen den anderen klinget.
§ 74 ("§ 47“ ist offensichtlich ein Druckfehler)
Unter weilen machen auch die Tabularisten den Tact sehr ungleich / weil sie sich es also angewehnet haben / wo aber etliche mit einander musiciren / da treibet immer einer den andern / damit die Mensur aequal und richtig bleibet. Ich verachte zwar hiemit diejenigen nicht / so sich an die Tabulatur gewehnet haben /sondern halte viel darauff / erinnere nur / dass man auch darinne sich also gewehne / dass der tact richtig bleibe / und sich wol exercire.
§ 75
Rechtschaffene Musici halten aber mehr davon / wann einer ex tempore vor sich etwas rechtes auf dem Clavier machen kann / als dass er sich gar zu sehr an die Tabulatur binde.
§ 76 Wer aber ex tempore vor sich etwas gutes spielen / und vor dem General-Basse ein richtig Präambulum machen will / der muß nothwendig die Modos Musicos verstehen: dass er die richtige Repercussion, in den Fugen / die richtigen clausulas formales und den ambitum eines jeden Modi c. wisse zu unterscheiden: auch sehen möge / wie weiter / und mit was vor Raison er von den Modis abweichen könne / damit nicht ein Mischmasch daraus werde…
§ 123 Und auf diese Weise kann man einem Lernenden / so sonst ein wenig vom Clavier verstehet/ und gute Naturalia hat / in einer Stunde einen Contrapunctum simplicem setzen lernen.“ Anmerkung Lutz Felbick: "Contrapunctum simplicem setzen“ ist hier im Sinne des ex-tempore- Spiels gemeint, denn Werckmeister spricht in seinen Werken ausschließlich von Composition im Sinne des praktischen Clavierspiels.
…Diese Clausulen werden aber nicht hieher gesetzet / als wann man dieselben in einen einzigen musikalischen Stücke also setzen und gebrauchen sollte / sondern nur zur Anleitung / dass man sich das Clavier durchaus bekandt machen möge.
E) Cribrum musicum oder musicalisches Sieb/ darinnen einige Mängel eines halb Gelehretn Componisten vorgestellet / und das Böse von dem Guten gleichsam ausgesiebet und abgesondert worden...Quedlinburg u. Leipzig 1700
Die in den erwähnten Schriften vertretenen Auffassungen Werckmeisters finden sich auch in seinem Cribrum musicum, S.42-60, dessen Text hier auszugsweise (1-27) wieder gegeben werden soll. In diesen Passagen zitiert Werckmeister aus Johann Kuhnau (1660-1722), Der musicalische Quacksalber 1700. Johann Kuhnau definierte in diesem Text im 52. Kapitel (500/10- 532/27) den wahren Virtuosen als einen Künstler, der in Lage ist, eine ex tempore componierte vollstimmige Sinfonia oder Sounata zu spielen. Aus dem Text geht hervor, dass ein musikalischer Quacksalber ein Musiker ist, der nicht improvisieren kann. (s. Kuhnau S. 500-513)
Johann Kuhnau, Der musicalische Quacksalber:
<500>
...
"Der wahre virtuose und glückselige Musicus
1. Die Italiäner pflegen die Künstler in der Mahlerey und Bildhauerkunst / ingleichen Gelehrte und Poeten / absonderlich aber die rechtschaffenen Musicos, Virtuosen / das ist / Excellente, edle und berühmte Leute zu heissen.
2. Gleichwie aber heutiges Tages dieser Missbrauch in der Welt eingerissen ist / dass man in den Tituln große Verschwendung treibet / und offtmals ein Praedicat beyleget / das ihm so wenig zukömmt / als einem Schüler der Nahme <501> eines Doctoris, oder einer Hure der Titul / der Erbaren und Tugendsamen: Also werden auch ihrer viel mit dieser musikalischen Excellenz beehret / und Virtuose genennet / die nicht einmal von einer gehörten Music recht urtheilen / vielweniger selbst etwas rechtschaffenes darinne praestiren können.
3. Weswegen den derjenige sich nicht gleich einbilden darff / dass ihm ein Sitz unter diesen Musen bereitet sey / wenn er zuweilen auf denen Briefen / nicht weit von seinen Nahmen / das Ephitheton Virtuoso gelesen hat.
4. Es wird das Wort Virtuose sonder Zweiffel von den meisten allhier nicht im moralischen Verstande genommen / dass es einen solchen Menschen bedeute / welcher sein Leben nach den Reguln der Erbarkeit anzustellen gewohnt ist / auch den beständigen Vorsatz hat / alles Gute zu vollbringen / und das böse zu unterlassen.
5. Sondern es hat hier eine Politische Bedeutung / und heißet so vile / als ein excellenter, edler und am Verstande be- <502> rühmter Mensch in seiner Kunst / die Lateiner nennen diese Tugend Virtutem intellectus, und jene Voluntatis.
6. So ist demnach unser Virtuoso ein solcher Musicus, der sich in seiner Kunst dergestalt habilitieret und geübet hat / dass er alle verständige Ohren vergnügen und vor einen vollkommenen Meister passieren kann.
7. Ich sage von der Vergnügung verständiger Ohren. Daher ist derjenige nicht gleich ein Virtuoso, der mit seiner Music etwa einem und anderen ungeschickten Menschen delectieren kann. Denn auff solche Weise dürfften die Baurfiedeler / Sackpfeifer und Leyermänner mit solchem Titul prangen / (denn diese stehenden Bauern mit ihrem Exercitio weit besser an / als der beste Musicus mit einem Clavichordio.)
8. So gedenke ich auch der Vergnügung der verständigen Ohren / darum / weil erfordert wird / daß ein Virtuoso nicht allein die Theorie, das ist / das gantze fundament und alle Reguln der Music <503> wohl inne habe / vernünfftig davon discutieren / und andere andere gewisse Lehr-Sätze beybringen; (denn wo er da nicht zu Hause ist / so mag er so gut und so delicat spielen oder singen / als er will / wird er doch nicht viel besser seyn / als etliche Vögel /welche ihre Lieder auch gar niedlich und wohl herpfeiffen) sondern auch in praxi wohl fort kommen solle. Die Music ist ja ein practicum, und wie soll das Ohr auf dessen Vergnügung sie ziehlet / von ihrer Süßgkeit etwas empfinden / wenn nicht der Musicus in der Action begriffen ist / und sein Instrument würklich hören lässet. Und ist ein Musicus ohne praxi so was ungeräumtes als ein Redner / der aber stumm ist.
9. Es setzet aber der Unterschied theils des Excercitii und der Profession, theils auch der Qualität / unsere Virtuosen in unterschiedene Classen.
10. Was die Profession anbetrifft / so etliche gleichsam unter den Musices wie die Könige zu achten / die / so zureden / den Scepter führen / und andern Gesetze <504> vorschreiben: das ist welche der Composition hauptsächlich obliegen / und die Stelle derer Capellmeister vertreten.
11. Die andern sind entweder Vocal- oder Instrumental-Musici: Jene heissen entweder Sopranisten /Altisten / Tenoristen oder Bassisten: diese tractieren entweder Pfeiffende oder Saiten-Instrumente.
12. Zwar giebt es auch andere species klingender Instrumente, als der Glockenspiele / der Zimbeln oder Triangeln / der Strohfiedeln / Brummeisen und dergleichen / so weder aus Saiten noch aus Pfeiffen bestehen: Doch kommen diejenigen / so dergleichen Spiele tractiren / weil keine / oder doch wenig Kunst dazu gehöret / gegen unsere Virtuosen in keine Comparaison.
13. Was die Qualität unserer Musicorum, anlanget / so sind sonderliche und nach den Gradibus comparationis Virtousi in Positivo, andere in Comparativo andere wieder in Superlativo: das ist / etliche sind wohl excerciret / doch werden sie von einem anderen / der besser componi- <505> ret / singest oder spielt/ übertroffen. Etliche hingegen finden nirgends oder doch gar selten ihres gleichen.
14. Gleichwie aber keiner einen guten und geschickten Componisten oder Capellmeister abgeben kann / welcher sich nicht mit einem jeden Instrumente bekannt gemachet / und dessen proprietät abgemercket / oder auch das Vermögen einer menschlichen Kehle erforschet hat: denn sonsten wird er gar mit ungeräumten Händeln aufgezogen kommen. Also wird auch kein Vocal- oder Instrumental-Musicus, absonderlich aber derjenige / der auf seinem Instrumente allein eine vollstimmige Harmonie vorstellet / wie zum Exempel die Organisten [im Sinne von Clavierspielern Anmerk. L.F.] / Lautinisten / Diorbisten / Viola di Gambisten / Chitarristen und dergleichen thun / sich jemals den Nahmen eines Virtuosen zueignen können / wofern er nicht in der Composition entweder gar ein Meister ist / oder doch zum wenigsten gleichsam darauff gewandert / und sich so zu reden in den Gräntzen dieses herrrlichen Studii wohl ümgesehen hat. <506>
15. Dahero kömmt es auch / dass die Castrati, die doch den Titul der vortreffligsten Sänger affectieren / wenn sie von der Composition keine Wissenschaft haben /
öffters mit solchen Manieren angestochen kommen / die sich so wenig zu ihrer Party / und dem darunter gesetzten Basoo continuo räumen / als eine Faust auf ein Auge.
16. Zwar muß man bekennen / es bringen manchmahl dergleichen Vocalisten oder Instrumentisten / ungeachtet sie in der Composition nicht zu Hause sind / dennoch in ihren Maniren so was appropriates und charmantes vor / dass der Componist solches nicht alleine nicht tadeln / sondern auch selbst admiriren muß. Aber solches geräth ihnen bloß / wie der blinden Henne / wenn sie ein Körngen findet. Entweder ihr gantzes Naturell / oder ihre lange Übung macht es / dass sie in diesem Stücke bisweilen den rechten Weg treffen. Sollte nun das Fundament, und das Msicalische Poetische Judicum darzu kommen / so würden sie alsdenn viel <507> vollkommener seyn / und das Praedicat derer Virtuosen kräfftig behaupten.
17. Vielweniger können die anderen Instrumental-Musici, derer Instrument an statt einer vollkommenen Harmonie dienet / diesen herrlichen Vortheil der Composition entbehren. Braucht aber ein Instrumental-Musicus sonderlich die Hülffe dieser schönen Dichterkunst / so ist es in Warheit derjenige / welcher das Clavier spielet: Denn wie dieser mit den vollkommensten Instrumente zu thun hat / und darauf alleine das verrichten kann, was sonsten in Choro Musico von vielen Personen muß verrichtet werden; Also ist auch sein musikalisches Spiel nichts anderes / als eine ex tempore componierte vollstimmige Sinfonia oder Sounata.
18. Ich sage eine ex tempore componierte Sinfonia. Daher kann ich denjenigen keinen Platz unter den Virtuosen versprechen / welche lauter studierte und von andern Leuten erbettelte Sachen spielen. Gesetzt / dass auch solche Stücke eine Arbeit der allerberühmtesten Meister <508> wären. Denn wenn sie auf Ansuchen desjenigen / der da gleich verstehet / dass sie mit fremden Kälbern pflügen / was anderes machen / und etwa ein vorgesetztes Thema tractiren sollen / da bestehen sie / wie Butter an der Sonnen / da siehet ihr eigener Habit gegen dem vorigen geborgten / wie arme Bettel-Lumpen / gegen einem mit Golde bestickten Gewandte aus. Sie sind und bleiben Stümper / so lange sie sich nicht unter die musicalischen Poeten rechnen können.
19. Verstehet nun ein solcher Musicus instrumentalis die Composition, so kan es nicht fehlen / er muß auff seinem Instrumente avanciren. Und wie ein ander / wo ihm nicht allezeit eine Parthey vor Augen lieget / oder er etwas auswendig gelernet hat / nicht 6. rechte Griffe erfinden kann / sonsten meistens wie in finstern tappen muß; Also hat hingegen ein Einheimischer in der Composition stets ein Licht und einen Compass vor sich / dass er ohne alle anderen Wegweiser gar sicher fortwandeln / und selbsten neue Dinge in- <509> ventiren kan. Giebt man ihm eine gestimmte Laute oder sonst ein Instrument, dergleichen er noch nicht gesehen / das erste mahl in die Hand / so wird er gleich darauff ein Lied und eine Harmonie
wo nicht gantz vollkömmlich heraus bringen / doch zum wenigsten andeuten
können. Macht er sich hernach nur etliche Wochen / oder wenige Monathe mit dem
Instrument wohl bekannt / untersucht dessen Eigenschafft / die dazu nöthige
Application und Manier / wie weit es sich auff solchen Instrumente bringen
lasse: So bin ich versichert / er wird binnen einer Jahres-Frist denjenigen
einholen / der 10 und mehr Jahre vor ihm auf diesem Instrumente / jedoch ohne
beyhülffe der Wissenschaft in der Composition, angefangen / und sich täglich
bis auf den Schweiß geübet hat.
20. Je mehr aber einer in der Composition erfahren / über dieses auch in der Invention glücklich ist / und / wenn er von der Instrumental-Music Profession machet / seinem seinem Instrumente oblegen hat; desto mehr wird seine Virtu floriren und <510> von der geschickten Welt aestemiret werden.
21. Woferne nun ein Musicus versichert ist / dass er durch Gottes Gnade oberzehlte Qualitäten erlanget; so mag er schon geschehen lassen / wenn man ihn unter die Virtuosen zehlet / und ist ihn auch nicht vor übel zuhalten / wenn er sich an großen Höfen und anderen vornehmen Oertern davor verkaufen will.
22. Ich habe der Gnade Gottes gedacht / dass durch sie die oberzehlten Qualitäten erlangen würden. Denn wo Gott / als der Ursprung aller Güter und vollkommenen Gaben / in allen unseren Wissenschaften nicht um Hülffe und Beystand angeflehet wird / so dürffen wir auch keinen glücklichen Fort- und Ausgang erwarten. Ja / in Mangelung des Vertrauens zu diesem Herrn / würden wir eher unter die Narren / als unter die Virtuosen zu rechnen seyn / gesetzet / es wäre auch unsere Kunst so beschaffen / dass wir vermittelst derselben mit dem Orpheus gleiche Wunder thun könten / weil es auch wohl (ich erschrecke darüber) solche Leute gegeben hat / <511> die durch Hülffe des schwartzen Tausend-Künstlers in ihrer Profession excelieret haben. Wie denn wohl ehemals unter den Fröschen eines Violinen-Bogens / aus welchen der Künstler auff der nur halb bezogenen Geige gleichwohl alle Zuhörer erstaunend gemachet hat / eine Fliege oder Spiritus ist gefunden worden.
23. So bin auch nicht ohne Ursache auf diese Wort gefallen / dass ein Musicus die erzehlten Qualitäten müsste versichert seyn. Denn da hat sich ein vor allen Dingen wohl zu hüten / und daß er seine Geschicklichkeit nicht etwa durch ein Microscopium, und also eine Mücke vor einen Elephanten ansehe. Wie denn in diesem Stücke unser verstand gemeiglich gar ein verderbtes Gesichte hat / zumahl da ihm am Tage liegende Schmeicheley Leute / fast nicht anders / als ein glatt polirter und an der Sonne gesetzter Schild die Augen immer mehr und mehr verblendet.
24. Daß aber ein Musicus sehen möge / ob er die wahre Virtuosen-Gestalt habe / so muß er sich die Bücher / oder das Ex- <512> empel derjenigen Leute / so von dergleichen perfection geschrieben haben / oder dieselbe gleich in der That weisen können / zum Spiegel dienen lassen.
25. Will er einen Capellmeister ins künfftige bedeuten / muß er sehen / ob der in den berühmten Büchern ausgestreuete Saame der nöthigen Lehren / so zu reden / auch auf seinen Acker mit gefallen ist / ob auch die Früchte / die er hervor bringet / so delicat und anmuthig schmecken / als etwa diejenigen / die man aus Italien und sonsten von berühmten Oerthern herbringet.
26. Und dies muß ein solcher Musicus anfangs zu seinen Gebuhrten verschweigen / und anderer Verständigen Urtheil darüber anhören. Denn wenn er die Leute wissen lässet / dass er der Meister von denen ihnen vorgelegten Stücken sey / so sollen ihm diese Richter allezeit verdächtig vorkommen / die seine Wercke approbieren und loben werden.
27. Ist er ein Vocal- oder Instrumental-Musicus, so muß er sehen / ob seine <513> Kehle oder Faust denen vorgelegten Kunststücken allen gnugsam gewachsen sey."
In den Abschnitten 28.-50 werden praktische Tipps für das Berufsleben des Musikers, der mit seiner Kunst nicht hinter dem Berg halten soll, gegegeben. Am besten solle er sich durch konkretes Vormusizieren und nicht durch lange Reden auszeichnen. Auch Eitelkeit und Selbstruhm stünden einem Msuiker nicht gut zu Gesichte.
" <525> [...] 51. Es schicket sich aber das Gleichniß vom Quacksalber nicht übel hieher [...].
52. [...] ein wahrer Virtuoso [...] bekräfftigt sein Praedikat nicht alleine durch seine Kunst / sondern auch durch seine conduite und Tugendhafte Lebens-Arth. [...]
53. Vor allen Dingen aber trachtet ein rechtschaffener Virtuoso dahin / dass er seine Kunst dem lieben GOtte zu Ehre und Dienste in der Kirche emploiren möge. [...]
54. [...] Ist er ein Capellmeister / so meidet er so viel er kan / den luxoriosen Stylum [...] Er obtruieret auch denen Auditoribis nicht allezeit seine ei- <528> gene Arbeit / sondern lässet auch frembder guter Meister ihre Invention hören / und weiset / daß hinter denen Bergen auch wackre Leute wohnen."
Virtuosen außerhalb der Kirche sollen nicht in Baurschenken, Bierhäusern oder anderen liederlichen Zusammenkünften auftreten und nicht auf die Hertzen des Frauenzimmers schauen, sondern mit Ihrer Kunst auch außerhalb der Kirche Gott dienen.
F) Anhang:
Werckmeister unterscheidet zwischen entlehnten und nicht-entlehnten Fundamental-Claves (Bassnoten des Generalbasses) und "rechten radices triades harmonicae" (Grundtönen des Dreiklangs):
"Weil auch die Sextam sehr offte / im Basso Continuo vorkommen / so wird selten zu der Nota / da sie über Stehet / die Oktava gegriffen / als etwa im motu contrario, oder Transitu, denn alle Claves / welche eine 6tam über sich haben / sind /wie auch andere) nur entlehnte Fundamental-Claves und nicht die rechten radices triades harmonicae ., aus: Die nothwendigsten Anmerckungen und Regeln, wie der Bassus continuus oder General-Bass wol könne tractiret werden" (Werckmeister 1698, S. 15, §16)
"Allhier wird das e nicht verdoppelt gesetzet / denn alle Claves im Basso, welche eine Sextam über sich haben / sind nur geborgte Fundamental-Claves, und nicht die rechten radices triades harmonicae..." (Harmonologia, 1702, S. 13).
Damit zeigt sich, dass entgegen einer weit verbreiteten Ansicht, Rameau habe hier ein neues Grundverständnis in das harmonische Denken eingeführt, der Generalbass des 17. Jahrhunderts schon einen Fundamentalbass ("radices triades harmonicae") im Sinne der späteren Lehre Rameaus kannte.
Auch J.S. Bach (Einige Reguln vom General Baß) benutzt wie Werckmeister im Falle der später so genannten Umkehrungen das Wort "entlehnt": "Der eigenthümliche Accord einer Fundamental Note bestehet aus der 3.5. u. 8. Ein entlehnter Accord bestehet darinnen, wenn über einer Fundamental Note andere species, als die ordinairen befindlich."
Auch Johann Philipp Kirnberger (Die Kunst des reinen Satzes, Berlin 1771, S. 248) bestätigt diese Erkenntnis:
"Viele haben sich bereden lassen, dass man diese einfache Lehre von der Harmonie dem Rameau zu danken habe, den man gerne in Frankreich für den ersten gründlichen Lehrer der Harmonie anpreisen möchte. In dessen ist nichts gewisser, als dass eben diese Lehre von den Grundakkorden und der aus ihren Verwechslungen entstehenden Mannigfaltigkeit, alten deutschen Tonsetzern lange ehe Rameau geschrieben, besser und gründlicher als ihm bekannt gewesen."
Darstellung einer Akkordfolge in Tabulaturschrift (Die Zahlen entsprechen dem Generalbassdenken und geben das Intervallverhältnis zum Basston an):
1. Abbildung: C-Dur Terz-, Quint- und Oktavlage, Oberstimme e-g , jeweils eingestrichen, dann c zweigestrichen, unter dem waagerechten Strich: Linke Hand jeweils mit kleinem c. Quelle: „Die nothwendigsten Anmerckungen und Regeln…
2. Abbildung C-Dur Grundkadenz TSDT, beginnend in Quintlage.
Quelle: „Die nothwendigsten Anmerckungen und Regeln…
Andreas Werckmeister, Hypomnemata musica, oder Musicalisches Memorial, welches bestehet in kurtzer Erinnerung dessen, so bisshero unter guten Freunden discurs-weise, insonderheit von der Composition und Temperatur möchte vorgangen seyn, zu eigener Nachricht auffgegezzet und denen Musical-Lernend- und Liebenden zum Besten den Druck übergeben von Andrea Werckmeister.... , Quedlinburg 1697.
"Wer aber eine Temperatur verlanget da alle consonantien in einer Gleichheit stehen der lasse alle quinten 1 / 12 eines <36> commatis herunter schweben/ so werden die tertiae majores 2 /3 die Minores 3 / 4 commatis schweben/ die Sexten werden auch der Natur Ihrer tertien folgen: Und man bedarff keines Subsemitonii. Dieses hat ein gewisser Theologus in einen sonderbahren tractat/ da er von etlichen Geheimnissen der Heiligen Schrifft vermeldet/ angeführet/ da er nicht allein von den Tempel Salamonis alle consonantias musicas hernimmt/ und aus ziehet/ sondern auch insonderheit von dem gegossenem Mehr/ welches 12. Ochsen getragen haben/ eine mathematische Beschreibung anführet/ dass die rechte Musicalische temperatur wie sie Gott selber geordnet darinnen enthalten sey. Denn wie die cicumferens 22. gegen den diameter 7. sich halte/ da es doch billig 21. gegen 7. und also / in terminis minimis 3. 1. sein solte/ also müste der exces in die 12. Theile vertheilet werden/ welches dann eine gleiche und richtige temperatur geben würde: Bissher habe ich dieser Meinung nicht können Beyfall geben/ weil ich lieber die Diatonischen claves reiner halten wollen/ damit dasselbe genus/ welches am meisten gebrauchet wird/ desto reiner behalten würde: Andere meinen/ dass die temperatur da alle consonantien in der Gleichheit stehen/ endlich würde den Preis behalten/ und die Music würde künfftig durchaus so excoliret werden/ dass ieden gleichviel seyn würde/ ein Lied aus dem c. oder cis zu spielen/ u.s.w. Den Gott würde unsern Nachkommenden viel Wunder erzeigen: Ich lasse auch diese Meinung in ihrem Werth/ es kan sich viel ändern/ denn viel Dinge so vor hundert Jahren denen Musicis ein Eckel gewesen/ sind jetziger Zeit am angenehmsten. Et sic mundus regitur opinionibus oder wie andere wollen/ Homo astris. Da nun die alten in denen tertiis maj. ein gantz comma haben ertragen können ..." (Hypomnemata musica, S. 35-36)
Andreas Werckmeister, Musicalische Paradoxal-Discourse oder ungemeine Vorstellungen, wie die Musica einen hohen und göttlichen Uhrsprung habe, und wie hingegen dieselbe so sehr gemissbrauchet wird. Dann, wie dieselbe von den lieben Alten mit grosser Schwürig- und Weitläufftigkeit, welche uns zum Theil noch anhanget, ist fortgesetzet worden und wie man hingegen in vielen Stücken in heutiger Musica practica eines nähern Weges und Vortheils sich bedienen könne. So wohl denen, so ihre Music zur Ehre Gottes gedencken anzuwenden, auch andern Gott- und Kirchen-Music Liebenden zum weitern Nachdencken mathematicè, historicè, und allegoricè, durch die musicalischen Proportional-Zahlen entdecket und vorgestellet von Andrea Werckmeister / Quedlinburg 1707
" ... wenn die Temperatur also eingerichtet wird/daß alle Quinten 1/12 Commat: ... schweben, und ein accurates Ohr dieselbe auch zum Stande zu bringen und zu stimmen weiß/so dann gewiß eine wohltemperirte Harmonia, durch den gantzen Circul und durch alle Clavis sich finden wird." (Paradoxal-Discourse, S. 110)
"Hierbey werden sich wohl einige verwundern / daß ich allhier eine Temperatur, da alle quinten 1/12 Commatis, die Tertiae maj; 2/3 die min: 3/4 und also alle Consonantien in gleicher Schwebung stehen / statuire, welche ich doch nicht ausdrücklich in meinem Monochordo vorgestellet; darauf gebe zur Antwort / daß ich schon vor 30. Jahren / als ich die Scheibe des Theophili Staden / aus des Harßdorffers Philos. Erqvickstunden [Gottlieb Staden,1607-1655, bzw. Georg Philipp Harsdörffer, 1607-1658; vgl. Harsdörffer, Georg Philipp / Schwenter, Daniel Deliciae Physico-Mathematicae oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden, Bd. 1: Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1636, hrsg. u. eingel. v. Jörg Jochen Berns, Frankfurt/M. 1991 (Texte der Frühen Neuzeit: Bd. 3).] gesehen / schon auf diese Temperatur, da man vorgegeben daß alle Quinten, 1/4 Comma schweben / und die Tertien maj. rein sein müsten/ zu untersuchen / da ich dann durch Gottes Hülfe / diese Unrichtigkeit zum ersten entdecket; Und habe die gar grausamen Dissonantien, sonderlich im H. und dis / welche über 2. Commata schwebeten / ein wenig gelinder / und habe dem generi Diatonico, die meiste Reinigkeit noch überlaßen / aus denen erheblichen Uhrsachen / weil sehr wenig Organisten aus denen so genannten Semitoniis oder Modis fictis ihre Lieder tractiren können: da ich nun die Tertien in dem genere Diatonico etwa 1/2 oder 2/3 Commatis nachschweben laßen / Ey was haben mich etliche Ignoranten verfolget / wie habe ich leiden müssen / da ich aber in meinem musicali schen Memorial pag. 35.36. und andern meinen Schrifften von dieser Temperatur Meldung / und den ersten Vorschlag gethan / wie alle Consonantien in gleicher Schwebung mechanicè stehen könten / und allen Quinten nur 1/12 Commatis, u. s. w. könte abgenommen werden / ich auch diese Stimmung / in Theoria auf meinen Monochordo und in Praxi, versucht und gut befunden / denn wie hätte ich sonst wißen / und schreiben können / daß die Tert. maj 2/3 und die minores 3/4 Comm. schweben müsten / so kan ich nicht umhin / die Wahrheit länger zuverhelen / insonderheit / da Gott nun noch andere rechtschaffne Leute erwekket / die diese Temperatur vor richtig erkennen / und dieselbe an den Tag / und öffentlich in den Druck gehen laßen / wie hierinnen insonderheit Herr Joh. Georg Neidhardt S.S. Theolog: Studiosus, sich löblich erzeiget / und den Proces gantz deutlich vorgestellet hat. Auf meinem heraus gegebenen Monochordo könte dieselbe Temperatur wenn es länger ware / auch gar leichte mechanicè aufgetragen werden / denn die darauf schon aufgerissenen Commata, die da in 3. oder 4. Theil getheilet sind / könten in 12. Theil getheilet werden / da man immer von einer reinen Quinta zur andern 1/12theil eines Commatis, wie mit den Viertheln geschehen / abnehmen könte / darnach könte man auch erfahren / wie viel die Tertien, Sexten, Quarten schweben. Welche dann alle gantz erleidlich seyn werden / da keine Tertia ein gantz Comma, sondern wie oben erwehnet / schweben wird. Ich hätte auch solche Temperatur durch die 12. Theile Commatis laßen aufreißen / weil aber der Kupfferstecher sich beschwerete (und derselbe auch nicht recht perfectioniret war) die engen Spatia der Commatum in 12. Theile zutheilen / muste ich daßelbe anstehen laßen. Denn mein gantzes Monochordum ist von C. biß nur 2 Fuß lang. Da nun die Alten in ihrem H. und dis den greulichen Wolf erdulden können / habe ich nur vor erst denselben ein wenig gelähmet / daß er nicht so grausam gewütet / und nun mehro der Schade eher zuersetzen stehet / als welchen er vorhero veruhrsachete. Sed omne principium grave, hätte ich also bald allen Tertien im genere Diatonico ihre Schwebung so starck gegeben /wie in der 12theiligen Eintheilung der Commatum geschehen muß/ so wäre ich von den Wölffen der Ignoranz gar zerrißen worden. Darum ist es schwer / einen Irrthum also bald / und auf einmahl aus zu tilgen / und ist mir lieb / daß ich von rechtschaffenen Leuten secundiret werde. Indeßen bin ich doch nicht ungeneigt / und bleibe dabey / daß man die diatoni schen Tertien etwas reiner laße / als die andern so man selten gebrauchet / es giebet auch gute Veränderung / und sind die in meinen Monochordo enthaltene Temperaturen zu erdulden / aber ein jeder weiß sie nicht ins Gehör zubringen. Denn da der Faber Stapul: und Glareanus die ordinaren Tertien welchen ein Comma in genere Diatonico zu groß waren /vor gut und angenehm in dem Gehör gehalten / so werde ich ja auch entschuldiget seyn können / wenn ich etlicher Tertien als cis, und f. gis, und c Welche doch gar selten / selten gebrauchet werden / ein Comma oder nur 3/4 Commat: über sich schweben laßen / damit dieselben / welche stets vorkommen / desto angenehmer bleiben möchten. Man kan ein altes Gebäu / welches noch feste Säulen hat / nicht auf einmahl über einen hauffen stoßen. Ich dancke Gott / daß ich den allgemeinen grossen Irrthum gefunden / da fast alle Welt dafür gehalten /daß alle Quinten im Clavier / ein Comma herunter schweben / und alle Tertien rein seyn müsten / welches doch im Grunde falsch / und gantz unrichtig / und verführisch ist. Ich erinnere auch noch beyläuffig und habe schon gesaget / daß auf meinem Monochordo die Commata mechanicè könten eingetheilet werden / denn es fället noch eine kleine Proportion in die Mathematische Eintheilung bey dem Commate, welche mit dem Circul nicht kann begriffen werden / und das Auge / und das Gehör dieselbe nicht vernehmen kan / davon in meiner Monochordischen beschreibung / pa.93 und 96 ein mehres." (Paradoxal-Discourse, S. 111-114).