Neugierig werden auf Musik von Helmut Lachenmann

Vortrag mit Musikbeispielen am 18.04.1999 in der Klangbrücke Aachen

Dieser Text ist ein Vortrags-Manuskript, welches nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Veröffentlichung hat.

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Inhalt

  1. Einleitung

  2. Vorwort

  3. Komponieren unter den Bedingungen des "ästhetischen Apparates"

  4. Komponist in der Begegnung mit dem Zuhörer

  5. Lachenmann über (seine) Musik

  6. Fußnoten

  7. Zeittafel H. Lachenamm

  8. Werkverzeichnis

  9. Sonstiges

Einleitung

Drei Klangbeispiele

Der heutige Vortrag über den Komponisten Helmut Lachenmann beginnt mit dem 1963 komponierten Werk "Wiegenmusik". Der Komponist schreibt hierzu:

"Wiegenmusik (nicht 'Wiegenlied') ist bestimmt von einem Gefüge vielfach verzweigter, oft weit gedehnter , oft eng zusammengedrängter Arpeggio-Figuren. Es nähert sich nach anfänglichen Verdichtungen mehr und mehr einem Zustand der völligen Ruhe an: 'Kind im Einschlummern', quasi als Psychogramm abgewandelt." (1)

An anderer Stelle lesen wir:

"Wiegenmusik erinnernd an die Poetik des Biedermeier, an die Träumereien der Romantik, gilt in der Widmung zwar der neugeborenen Tochter eines befreundeten Ehepaares, hält aber innerhalb der knapp drei Minuten nicht, was es einflüstert. Kein Pendeln, kein schwankendes Verschmelzen von Mutter und hilfloser Kreatur mittels der aufs Notenpapier gesetzten Töne, keine programmatische Studie, sondern Zartheit und Verklärtheit auf einer Klangstufe, die schon damals eher Verblüffung bei den Zuhörern hervorgerufen hat denn Kontemplation."(2)

Das Werk arbeitet mit nuancierten Resonanzklängen und differenziert zwischen gehaltenen Tönen, stumm gedrückten Tasten, die wiederum zu einem definierten Zeitpunkt wieder losgelassen werden sollen und angeschlagenen Tasten. Die dabei entstehenden leisen und vom Komponisten minuziös ausgearbeiteten Nachklänge erfordern ein genaues Hinhören.

Im Verhältnis zu späteren Stücken Lachenmanns ist diese Komposition relativ klassisch angelegt: Es werden weder präparierte Klavierklänge, noch Geräusche benutzt. Die Klanglichkeit spielt sich - quasi wie bei einer Spieluhr - durchweg zwischen der Sopranlage und den höchsten Klavierlagen ab, nur gelegentlich kommt die Tenorlage mit ins Spiel. Vereinzelt tauchen in dieser hervorstechenden Lage auch Melodiefragmente auf: Molltonleitern, Dreiklangsbrechungen, Pentatonik. Auch bei den Zusammenklängen erscheinen neben schärfsten Dissonanzen gelegentlich derartig archaische Muster: Quintklänge und nur gering verfremdete Durdreiklänge. In rhythmischer Hinsicht gibt es - insbesondere bei diesen vertrauten Melodiestrukturen - neben den frei gestalteten Flächen immer wieder Passagen mit gleichmäßigen Aufeinanderfolgen. Gegen Schluß erscheint sehr wirkungsvoll ein düsteres Cluster in der bislang völlig ausgesparten bedrohlich tiefen Subkontraoktavlage. Dieser angsteinflößende Dunkelklang bleibt bis zu dem im Nichts verhallenden Ende des Stückes erhalten. Ausführender bei dieser Aufnahme ist der Komponist.

Klangbeispiel 1: CD Helmut Lachenmann, Solo pieces, Montainge Auvidis 782075 (1995), Nr. 2: Wiegenmusik für Klavier 1963

Bei dem nachfolgenden Stück war es für mich anfangs schwierig, herauszufinden, von welchem Instrument diese Klänge hervorgebracht werden. Lassen Sie uns auch dieses kurze Stück hören.

Klangbeispiel 2: CD Helmut Lachenmann, Solo pieces, Montainge Auvidis 782075 (1995), Nr. 3: Guero (1970, rev. 1980)

Bei diesem Klavierstück mit dem sinnigen Namen "Guero", 1970 komponiert, 1980 überarbeitet, wird der Titel wörtlich genommen und auf den Tasten so "gespielt", daß es kein einziges Mal zu einem Anschlag derselben kommt. Die Lücken zwischen den Tasten werden mittels der Fingerspitzen, der Fingernägel zum Klingen gebracht. Aus dem Pianisten wird ein Tastenspieler, ein Schatten seiner selbst, welcher Pianistisches auf das wesentliche zwingt, auf den Ausgangsort allen Übens, auf den sich anbietenden verschiedenen Guero- Rasterungen - also auch auf den Saitenwirbeln, auf den Saiten selbst - gleichfalls Glissandi in verschiedenen Richtungen und Bewegungen einzelner und beider Hände auszuführen.

Hören wir als drittes Klangbeispiel das wiederum ganz anderes konzipierte Klavierstück mit dem Titel "falscher Chinese, ein bißchen besoffen" aus dem Zyklus "Ein Kinderspiel" (1980). Die kurzen Aphorismen dieses sieben Stücke umfassenden Klavierwerkes sind z.T. von einer impertinenten Simplizität. Lachenmann schreibt zu diesem Zyklus:

"Kind sein, man erlaube mir solches Dilettieren, heißt doch: lustvoll erleben und über solches Erleben die Welt, die Natur,die Technik, die Kunst und in allem sich selbst entdecken, so sich entwickeln und seine Kräfte immer weiter entfalten... Meine Stücke "Ein Kinderspiel" wollen ... leicht zu greifende und zu begreifende Modelle sein"(3)

"Obwohl für meinen Sohn David geschrieben und - in Teilen - von meiner damals siebenjährigen Tochter Akiko zum ersten Mal öffentlich gespielt, ist Kinderspiel keine pädagogische Musik und nicht unbedingt für Kinder... Was herauskommt, ist leicht zu spielen, leicht zu verstehen: ein Kinderspiel, aber ästhetisch ohne Kompromisse..."(4)

Klangbeispiel 3: CD Helmut Lachenmann, Solo pieces, Montainge Auvidis 782075 (1995), Nr. 10: falscher Chinese, ein bißchen besoffen

Es wäre nun interessant, Sie zu fragen, welche der drei Kompositionen Ihnen am besten gefallen hat...

Vorwort

Über Helmut Lachenmann zu reden wie man über Messiaen, Schönberg, Stockhausen oder ähnliche Komponisten der Neuen Musik redet, ist unmöglich. Liegen bei jenen Lehrbücher oder Kompositionstechniken vor, die man - zumindest an der Oberfläche - zu einem gewissen Schulwissen zurechtschneiden kann, so entzieht sich Lachenmann jeder derartig systematischen Darstellung. Zwar gehört er nicht zu der Sorte von Komponisten, die sich in Schweigen über ihr kompositorisches Schaffen hüllt, sodaß man alleine auf das Studium der Musik angewiesen wäre, im Gegenteil: Lachenmann hat neben seinem knapp 50 Kompositionen umfassenden Werk und den von ihm autorisierten Einspielungen seiner Werke eine Fülle von Texten verfaßt, die in einer Auswahl in dem 1996 erschienenen Buch "Musik als existentielle Erfahrung", zusammengefaßt sind. Doch wenn man meint, daraus könne man so etwas wie ein Lehrbuch seiner Kompositionstechnik herauslesen, liegt man bei Lachenmann falsch.

Gerade deshalb ist die Beschäftigung mit dem 1935 in Stuttgart geborenen Komponisten faszinierend und zeigt immer wieder neue Aspekte. Als einer der bekannteren Schüler Luigi Nonos gehörte er schon bald zu den führenden Komponisten der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, welche jahrelang als das zentrale Forum für Neue Musik galt.

Heute, in einer Zeit, in der das Wort "Postmoderne" auch in der Musik ganz groß geschrieben wird und in dem in Kürze erscheinenden enzyklopädischen Werk "Handbuch der Musik des 20. Jahrhunderts" (5) als Hauptströmung der letzten 25 Jahre unseres Jahrhunderts behandelt ist, wird vielfach die Meinung geäußert, daß Lachenmann eine ästhetische Position vertritt, die nach dem vorschnell verkündeten "Ende der Avantgarde" (6) nicht mehr dem engeren Kreis der aktuellen Musikdiskussion angehört. Ist Lachenmann so einfach abzuqualifizieren? Weil sich dieser "altmodische" Komponist, der eine größere Nähe zu Adorno hat als zu manchen Schönklangmeistern der postseriellen Gegenwart, weigert, auch nur einen Hauch der Prämissen zu übernehmen, die andere Komponisten - im Extremfall Arvo Pärt - zu einer hervorragenden Präsenz im Musikleben verhelfen, überliefert er den Kerngedanken der von Schönberg initiierten Diskussion über die Neue Musik: den Gegenentwurf zu den bürgerlich-vereinnahmenden Kunstauffassungen leicht konsumierbarer Strukturen.

Auch Lachenmanns Denkansatz möchte man als dialektisch bezeichnen, allerdings in einem ganz anderen Sinne als bei dem eher positivistisch ausgerichteten Adorno. Die Basis seines Denkens ist bei ihm in sofern weitreichender, als daß ihn in weit größerem Maße die Dialektik von Ordnung und Chaos, also von bekannten und unbekannten Ordnungen, interessiert (7). Er verteidigt zwar Adorno gegen allzu ungerechtfertigte Angriffe (8), nennt ihn aber letztlich doch einen "naiven Romantiker".

Lachenmann beschreibt seine künstlerische Tätigkeit mit dem Bilde des Organisten, der auf den drei Manualen seiner Orgel "Reflexion", "strukturelle Innovation" und "expressive Intuition" spielt. (9)

Insbesondere seine Reflexionen über das Komponieren, aber auch über das Musik-Leben und die Musikrezeption sind sehr grundlegend und radikal. Obwohl man völlig fehlgeht, diese Gedanken als dogmatisch zu betrachten, so müssen andererseits bestimmte, von Lachenmann klar definierte und immer wieder betonte Aspekte hervorgehoben werden. Es kann natürlich problematisch sein, Lachenmanns Ästhetik mit Hilfe von Schlagworten zu fassen - sie führen leicht zu Mißverständnissen. Trotzdem möchte ich diesen Weg meiner Zuhörer wegen einschlagen, um eine erste Orientierung zu ermöglichen. Dies soll in drei Schritten geschehen.

Komponieren unter den Bedingungen des "ästhetischen Apparates"

Wie kaum ein anderer Komponist hat Lachenmann die Parameter des heutigen Musiklebens reflektiert. Die gesellschaftlichen und künstlerischen Bedingungen, unter denen Komponisten heute zu arbeiten haben, nennt er den "ästhetischen Apparat", der von ihm kritisch beleuchtet wird. In einem 1976 geschriebenen Aufsatz definiert er den Begriff und verknüpft ihn mit einem erweiterten Begriff von Tonalität. Er versteht unter dem "ästhetischen Apparat"

"das Gesamt der geltenden musikalischen Wahrnehmungskategorien in ihrer besonderen, historisch und gesellschaftlich bedingten Ausformung und Reichweite, so wie sie sich in einer bestimmten Situation theoretisch beziehungsweise empirisch darstellen, in unserem Fall sozusagen die "Tonalität 1976" mit allem, was sie einschließt, von ihren traditionalistischen bis zu ihren exotischen, antithetischen, pluralistischen Elementen.

Gemeint sind damit unmittelbar die tatsächlich verfügbaren Objektivationen dieser ästhetischen Kategorien im Alltag der bürgerlichen Kultur, gemeint als deren Requisiten im weitesten Sinn etwa das gesamte vorhandene und denkbare, überlieferte und neu entwickelte Instrumentarium in Theorie und Praxis, die Musikinstrumente mit ihrer typischen Bauart und der daran gebundenen Aufführungspraxis einschließlich der gebräuchlichen Notation, darüber hinaus im Zusammenhang mit unserem Musikbewußtsein und unserer Musikpflege entwickelten, und genutzten technischen Mittel, Geräte, Begriffsapparate, Arbeitstechniken, aber auch die in der Gesellschaft zuständigen Institutionen und Märkte - wenn man so will: von der Auslage einer Musikalienhandlung bis zur Ehrenkarte der Putzfrau eines Stadtrates beim Gastkonzert der Fischerchöre, von der Hohner-Mundharmonika bis zum beamteten Rundfunksinfonieorchester mit seinen vielen in Quinten gleich gestimmten Geigen und seiner einzigen Baßklarinette: Alle diese Elemente mit ihrer besonderen Hierarchie und Zuordnung, sie bilden den 'ästhetischen Apparat'. Dieser ästhetische Apparat verkörpert die keineswegs zufällig in dieser besonderen Form herrschenden ästhetischen Bedürfnisse und Normen, er ist das Abbild der besonderen Art von Nachfrage nach Musik; insofern spiegelt sich in ihm das gesellschaftliche Bewußtsein mit seinen Wertvorstellungen und Tabus - und mit seinen Widersprüchen. Der ästhetische Apparat verkörpert beides: das Bedürfnis des Menschen nach Schönheit und zugleich seine Flucht vor der Wirklichkeit; er verkörpert die Sehnsucht des Menschen nach Freiheit und zugleich seine Angst vor ihr." (10)

Lachenmann unterwirft einzelne Bereiche des "ästhetischen Apparates" einer strengen Kritik.

"Musik setzt Denken und Fühlen in Bewegung, beide kreisen aber um nichts anderes als um unsere tiefsten Sehnsüchte und Bedürfnisse - nach Glück, nach Erkenntnis, nach erfülltem Dasein. Die Unterhaltungsindustrie lebt vom Betrug an unseren Sehnsüchten, der so auch ein Betrug an unseren Gefühlen und Gedanken ist. Der philharmonische Kulturbetrieb nimmt, unter Mißbrauch unserer Tradition, daran fatalen Anteil." (11)

Komponist in der Begegnung mit dem Zuhörer

Wahrnehmung

Im Gegensatz zu manchem Komponisten der dogmatisch-seriellen Musik hat sich Lachenmann sehr intensiv mit der Wahrnehmungsproblematik in der Neuen Musik auseinandergesetzt. Musikalisches Hören ist für ihn ein spannendes Abenteuer und findet jenseits einer musikalisch-akademischen Bildung statt. Als die vier Grundbedingungen des Hörens bezeichnet er

"Tonalität - Körperlichkeit - Struktur - Aura: Es gibt keine Musik, die im Zusammenwirken dieser vier Aspekte nicht von jedem Hörer unmittelbar und intuitiv verstanden würde.... Der Komponist hat nicht weniger Schwierigkeiten, seine Musik zu verstehen als andere.... Das bedeutet keine Resignation, sondern bestätigt vielmehr die Richtigkeit solcher Reflexion, denn sie schlägt dem Komponisten wie dem Hörer jedes Rezept aus der Hand. Übrig bleibt ihm ein durch eine Hölle der Verunsicherungen hindurch sich findender Ausdruckswille, ein weit offenes geschärfte Denken und Fühlen im Umgang mit den Mitteln und ein in solcher Auseinandersetzung hellwacher Instinkt." (12)

Besonders betont er die Reflexion über diesen Wahrnehmungsprozeß:

"Der Gegenstand von Musik ist die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung... Hören heißt: sich selbst entdecken, heißt: sich verändern... In der Praxis bedeutet solches Hören Konzentration des Geistes, also Arbeit. Arbeit aber als Erfahrung des Eindringens in die Wirklichkeit, als fortschreitende Selbsterfahrung, ist eine Glückserfahrung" (13)

Musik als existentielle Erfahrung

In diesem Sinne sieht er in der Beschäftigung mit der Musik, vor allem in der sich "selbst wahrnehmende Wahrnehmung", eine "existentielle Erfahrung" und möchte den Hörer einladen, an solchen Bereicherungen teilzuhaben.

Querfeldein-Kontakte

Er bemüht sich, in vielen Texten darum, diesen Ansatz deutlich zu machen, denn er stellt fest, daß die Mehrheit seiner Zuhörer sich nur oberflächlich mit der neuen Musik und ihren Intensionen auseinandersetzt:

"Die unmittelbaren Kontakte ... der überwiegenden Mehrheit der Hörer zur Neuen Musik, insofern sich diese Kontakte dem Vorhandensein neuer Werke in Konzertsaal, Rundfunkprogrammen und Schulunterricht verdanken, sind - und so möchte ich sie nennen -: Querfeldein-Kontakte. Sie stützen sich bewußt und unbewußt, auf die ästhetischen Normen der Tonalität, deren Überwindung Avantgarde einst sich vorgenommen hatte; auf Normen mithin, welche die Begriffe 'Kunst' und 'Schönheit' nicht zu trennen vermögen von der Vermittlung und Bestätigung einer in der Gesellschaft geborgenen Ästhetik, einer Ästhetik der Geborgenheit, hinter welcher die Utopie und der Schein einer ideologischen, religiösen, politischen Geborgenheit steht, ein Geborgenheitswahn, welcher den Einzelnen zu einem irrational geblendeten, zur Selbstverantwortung und Selbstbestimmung letztlich unfähigen Untertan der Interessen derer macht, welche es in der Hand haben, die existentielle Geborgenheit des Einzelnen ebenso lange zu garantieren, wie ihre eigene Geborgenheit durch die geistige Unselbständigkeit der Massen abgesichert ist, beziehungsweise solange, wie es ihnen paßt." (14)

"Verweigerung von Kommunikation" und "Schönheit als Verweigerung von Gewohnheit"

Die von Lachenmann immer wieder hervorgehobenen, zunächst befremdlich wirkenden Schlagworte der "Verweigerung von Kommunikation" und der "Schönheit als Verweigerung von Gewohnheit" sind bei ihm durchaus als äußerst lebensbejahende Begriffe gemeint.

"Das Kunsterlebnis als Erfahrung und Erprobung der eigenen Kraft, nicht einfach ins Schauerlich-Unbekannte, sondern aus dem Schein der Geborgenheit in die Wahrheit der Ungeborgenheit vorzustoßen, den Reichtum an Erfahrungsmöglichkeiten und zugleich die Widersprüchlichkeit der Werte zu begreifen, das wäre Lernprozeß und Kunstgenuß in einem. Für den Komponisten, der sich an diesem Leitbild orientiert, liegt die Chance, verstanden zu werden, darin, daß er sich den kommunikativen Spielregeln und expressiven Erwartungen der Gesellschaft unmittelbar widersetzt... Kommunikation verweigern und zugleich erzwingen: Nur der äußersten ästhetischen Intensität kann dies gelingen. ... Musik erfinden heißt deshalb: negativ handeln, Gewohntes durchschauen und aussperren, vorweg Impliziertes aufdecken durch Unterdrücken und so vorweg Unterdrücktes freilegen. Nichts ist konstruktiver als solche Destruktion." (15 )

So versteht er "Musik als sprachlose Botschaft von ganz weit her - nämlich aus unserem Inneren" und zitiert mehrfach jenen Satz Georg Büchners: "Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.", der - auf die Kunst angewandt - in krassen Widerspruch zu einem bürgerlich-saturierten Kunst- Welt- und Menschenbild steht.

An anderer Stelle schreibt er:

"Von dem Gedanken der verweigerten Kommunikation war mein eigenes Musikschaffen nicht eigentlich ausgegangen; es hat mich vielmehr darauf hin und, auf Dauer vielleicht: dort hin geführt." (16)

Verantwortung des Komponisten

Die Umsetzung dieses konträr zu den in der Gesellschaft herrschenden Auffassungen stehende Alternativkonzept betrachtet er als seine gesellschaftlich-politische Aufgabe, die er allerdings auf subtil-künstlerische Weise einbringen möchte.

"Jegliche demagogisierenden, emotionalisierenden, manipulatorischen Möglichkeiten der Musik... wirken... plump faschistoid.... Von revolutionärem Geist und Willen kann Musik glaubhaft zeugen, indem man ihren bislang geläufigen Kommunikationsbereich ... anhand konkreter Alternativer Kommunikation selbst aufs Spiel setzt und Reflexion und kritisches Verhalten nicht bloß bequem vorexerziert, sondern mit aller Konsequenz herausfordert... den Rest aber - Nachdenken des Einzelnen, was denn 'sein' sollte, was geschehen müsse und was er selbst dazu zu lernen und zu leisten habe -: bitte ohne Musik " (17)

"Ich möchte 'singen wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet' (Uhland), indes wohnen wir auf Zweigen eines kaputten Waldes." (18)

Lachenmann über (seine) Musik

Musik gibt ihren Sprachcharakter auf

Für Hörer, die sich wenig mit bestimmten Richtungen der Neuen Musik beschäftigt haben, gilt es zunächst, über eine Erweiterung der Definition nachzudenken, daß Musik auf tonalen bzw. atonalen Melodien basieren muß. Diese vielfach in Umlauf befindliche Musikdefinition orientiert sich an der Vorstellung von Musik als einer am Gesang oder an der Sprache orientierten Kunst. Spätestens seit den Klangexperimenten der französischen "Musique concrète" Ende der 40-er Jahre unseres Jahrhunderts hat sich die Musikdefinition erweitert. Sie führte zur "Emanzipation des Geräuschs" oder mit der "Kunst des Akustikdesigns" (19) sogar zu kommerziellen Anwendungen in der Industrie oder zu den Geräuscheproduzenten in der Filmbranche. Zweifellos gibt es insbesondere bei anspruchsvollen Filmen solche, deren akustischer Anteil wesentlich dazu beiträgt, die Produktionen als bedeutende Kunst zu klassifizieren. Den Musikbegriff in dieser Beziehung zu erweitern, war die zunächst praktizierte Möglichkeit, andere Künstler wie John Cage lösten das Definitionsproblem, indem sie den Knoten auf paradoxe Weise zerschlugen: Sie behaupteten, gar keine Musiker, sondern Zeitkünstler oder ähnliches zu sein. Mag man diese neue Kunst nun "Musik", "akustische Kunst" oder wie auch immer nennen, entscheidend ist, daß sie ihren Sprach-Charakter im Sinne eines melodischen Konzeptes aufgab. Lachenmann gehört nun zu der Gruppe, die ihre Kompositionen im Sinne des erweiterten Musikbegriffs verstehen.

Aura

Vielfach weist Lachenmann auf die Tatsache hin, daß der kompositorische Einsatz eines bestimmten Instrumentariums schon eine Aussage bedeutet. Wenn Mahler in seiner Sechsten Symphonie Herdenglocken zum Einsatz bringt, so handelt es sich eben nicht nur um ein bestimmtes Klangelement, sondern mit diesen Instrument ist eine Aura verbunden, die sich nicht reduzieren läßt auf die reine musikaluische Klanglichkeit. Lachenmann berücksichtigt diesen Aspekt, welcher in der Mitte unseres Jahrhunderts, zu Beginn des seriellen Denkens, als man sich auf die Beschäftigung mit dem Notenmaterial konzentrierte, kaum reflektiert wurde.

"Die seriellen Komponisten haben, indem sich ihre strukturellen Konzepte über die Aura der benutzten Mittel rücksichtslos hinwegsetzten, dadurch gerade dort, wo sie auf neue Ordnungen zielten, in Wahrheit oft ein expressives Chaos und in vielen Werken einen regelrechten Trümmerhaufen geschaffen." (20)

Struktur als Polyphonie von Anordnungen

Der Schlüsselbegriff für das Hören heißt nach Lachenmann "Struktur", in welchem auch jene Überlegungen einfließen.

"Als strukturelle Erfahrung aber orientiert sich Hören nicht allein positivistisch an der Beschaffenheit des klingenden Objekts, sondern präzisiert sich an der Zuordnung dieses Objektes in seiner Umgebung." (21)

Er definiert Struktur "als Polyphonie von Anordnungen, die es durch die Wahrnehmung abzutasten, und die es in einem solchen Abtastprozeß zugleich als Ausdruck und als strukturelle/klangliche Idee zu erfahren gilt." (22) "Komponieren heißt ein Instrument bauen."(22a)

Klangtypen der Neuen Musik

In einem 1966 erschienenen Aufsatz "Klangtypen der Neuen Musik" hat Lachenmann charakteristische Klangtypen systematisch dargestellt. Er faßt zusammen:

"So wäre der sogenannte Kadenzklang etwa ein Impuls mit natürlichem oder künstlichem, also auskomponiertem Nachhall, zum Beispiel ein Tamtamschlag oder ein Klavierakzent, der sich in einem Diminuendo-Blechbläserklang fortsetzt - zugleich eine Klang-Kadenz, nämlich ein aus der Form erfahrbares Intensitäts- beziehungsweise Energiegefälle,

so wäre ein sogenannter Farbklang - etwa ein gehaltener Orgelakkord oder ein gehaltener Bläserklang - zugleich eine Klangfarbe, nämlich eine charakteristische Erfahrung von statischer Zeit, deren Dauer noch zu bestimmen wäre,

so wäre ein Fluktuationsklang - etwa eine permanent wiederholte Arpeggio-Figur in impressionistischer ebenso wie in barocker Musik, und sei es nur ein Triller - zugleich formal beschreibbar als Klang-Fluktuation, nämlich eine aus periodischen Bewegungen gebildete statistische Zeiterfahrung von noch zu bestimmender Dauer,

so wäre ein Texturklang - etwa der Verkehrslärm an einer bestimmten Stelle in einer Stadt - zugleich formal beschreibbar als Klangtextur, nämlich eine aus einer Vielfalt von heterogenen Einzelereignissen gebildete statistische Zeiterfahrung, die einen statistischen Gesamteindruck vermittelt, quasi ein charakteristisches Chaos, und so wäre schließlich - aber hier kehre ich den Satz um - eine Klangstruktur, also eine Form, erfahrbar zugleich als eine typischer Strukturklang, das heißt: nicht als charakteristisches Chaos, sondern im Gegenteil als charakteristische Ordnung, gebildet aus heterogenen Klangkomponenten, die ein durchdachtes, vielschichtiges Beziehungsfeld ergeben und zusammenwirken nicht bloß als statistischer Eindruck, sondern als ein durchformter Ausdruck, der zeitlos präsent ist. Beispiel: eine Webern-Bagatelle, eine Bach-Fuge, und welches in sich stimmige Werk auch immer.

Nicht eingehen kann ich auf die mannigfaltigen Formen des Zusammen- und Ineinanderwirkens dieser fünf Klangtypen." (23)

"Musique concrète instrumentale"

Lachenmann hat sich besonders intensiv mit den Möglichkeiten beschäftigt, auf den klassischen Musikinstrumenten Geräusche zu erzeugen und in eine musikalisch sinnvoll Struktur zu bringen. Zu Beginn hatten wir ja bereits ein solches Beispiel gehört.

"In Anlehnung an die Technik der "Musique concrète", die ... Alltagsgeräusche auf Band speichert und in musikalischen Collagen verwendet, und im Hinblick darauf, daß bei mir solche Vorgänge sich dagegen in den realen instrumentalen Aktionen abspielen, habe ich solche Musik 'Musique concrète instrumentale' genannt." (24)

Keinesfalls ist aber mit dem Geräuschhaften ein Endpunkt erreicht, im Gegenteil:

"Mit der Zeit mußte sich auch die Idee der 'Musique concrète instrumentale' zersetzen." (25)

Sprachlosigkeit

"Wir leben offenkundig in einer Gesellschaft der Sprachlosigkeit, die übertüncht ist durch eine falsche Sprach-Fertigkeit, wie sie uns von vorgegaukelt wird durch den Wust der Medien einschließlich einer falsch traditionsbeflissenen Kulturpflege, welche weniger in der Tradition wurzelt als eher darin wurstelt..." (26)

Klangbeispiel 4: CD Helmut Lachenmann, Solo pieces, Montainge Auvidis 782075 (1995), Nr.1 : Pression

Fußnoten

1 Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung - Schriften 1966-1995, Wiesbaden 1996, S. 371 (in diesem Aufsatz mit "HL, 1996" abgekürzt)

2 Hans-Peter Jahn , Begleittext zur CD

3 HL, 1996, 162f.

4 HL, 1996, 393

5 Laaber-Verlag

6 MGG 194f., Stichwort "Neue Musik", Spalte 112

7 HL, 1986, 277

8 HL, 1996, 331

9 HL, 1996, 82

10 HL, 1996, 107

11 HL, 1996, 54

12 HL, 1996, 61f.

13 HL, 1996, 117f.

14 HL, 1996, 22

15 HL, 1996, 100

16 HL, 1996, 101

17 HL, 1996, 98

18 HL, 1996, 82

19 Murray Schafer, Klang und Krach, Frankfurt 1988

20 HL, 1996, 61

21 HL, 1996, 118

22 HL, 1996, 124

22a up to date Breitkopf I/2000, S.10

23 HL, 1996, 57 Das Zitat ist eine 1979 geschriebene Zusammenfassung des 1966 erschienen Aufsatzes.

24 HL, 1996, 124

25 HL, 1996, 221

26 HL, 1996, 162

Zeittafel Helmut Lachenmann

1935 in Stuttgart geboren

1955-58 Studium an der Musikhochschule Stuttgart: Klavier bei

Jürgen Uhde, Theorie und Kontrapunkt bei Johann Nepomuk David

1958-60 Kompositionsstudium bei Luigi Nono in Venedig

1961-73 Gastvorlesungen an der Ulmer Hochschule für Gestaltung

1962 erstes öffentliches Auftreten als Komponist bei der Biennale Venedig

und den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt.

1965 Arbeit im elektronischen Studio der Universität Gent, Kulturpreis der Stadt München

1966-70 Lehrauftrag für Musiktheorie an der Musikhochschule Stuttgart

1968 Kompositionspreis der Stadt Stuttgart

1970-76 Dozent an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg

1972 Koordinator des Kompositionsstudios der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik

1972 Bachpreis der Freien und Hansestadt Hamburg

1972-73 Meisterklasse für Komposition an der Universität Basel

1976 Professur an der Musikhochschule Hannover

1978, 1982 Dozent bei den ,,Cursos Latinoamericanos de musica contemporanea11 in Brasilien und in der Dominikanischen Republik

1978-92 mehrfach Dozent bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt.

seit 1981 Professor für Komposition an der Musikhochschule Stuttgart

1982 Kompositionsseminare in Toronto

1984 Kompositionsseminare in Buenos Aires, Santiago de Chile und Tokyo

1986 Seminarwoche in Villafranca/Spanien

1987 Workshop in Middelburglflolland

1988 Workshops in Blonay/Schweiz (gemeinsam mit dem Ensemble Modern) und Weingarten

1989 Seminarwochen in Oslo und am Conservatoire Paris

1992 Vorträge in St. Petersburg

1993 Dozent in Akiyoshidail Japan, Workshop in der Villa Musica Mainz

1994 Seminarwoche in Wien mit dem Klangforum Wien

1997 Ernst von Siemens Musikpreis

seit 1983 Programm-Schwerpunkte bei Festivals und Konzertreihen im In- und Ausland, u.a. in Amsterdam (Holland Festival), Antwerpen, Bremen, Brüssel (Ars Musica), Duisburg, Frankklirt am Main, Graz (Steirischer Herbst), Huddersfleld, Köln (Musik der Zeit), London, Oslo, Paris (Festival d'Autonme), Reggio Emilia (di nuovo musica), Saarbrücken (Musik im 20. Jahrhundert), Stuttgart (Tage für neue Musik), Weingarten, Wien (Wien modern), Witten (Tage für neue Kammermusik) und Zürich (Tage für neue Musik) u.a.

(Quelle: http://stadt. darmstadt. gmd. de/kultur/musik/imd-ferien/lac. htm)

WERKVERZEICHNIS HELMUT LACHENMANN

(Quelle: H. Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung - Schriften 1966-1995, Wiesbaden 1996)

1. FÜNF VARIATIONEN ÜBER EIN THEMA VON FRANZ SCHUBERT

für Klavier (1956)

U: 1957 Stuttgart (Jost Cramer)

V: Breitkopf & Hantel

2. RONDO für zwei Klaviere (1957)

U: 12.3.1958 Stuttgart (Gunilde Cramer, Helmut Lachenmann)

unveröffentlicht

3. SOUVENIR. Musik für 41 Instrumente (1959)

U: Rundfunkaufnahme 1979 Köln

(Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Leitung: Ladislav Kupkovic);

öffentliches Konzert: 11.11.1994 Stuttgart

(Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Leitung: Peter Hirsch)

V: Breitkopf & Hantel und Salzburg

4. DUE GIRI. Zwei Studien für Orchester (1960)

unaufgeführt, unveröffentlicht

5. TRIPELSEXTETT für je sechs Holzbläser, Blechbläser und Streichinstrumente (1960/61)

unaufgeführt, unveröffentlicht

6. FÜNF STROPHEN für neun Instrumente (1961)

U: 13.4.1962 Venedig

(Mitglieder des Orchesters des ,,Teatro La Fenice",

Leitung: Daniele Paris)

V: Herbert Post Presse

7. ECHO ANDANTE für Klavier (1961/62)

U: 18.7.1962 Darnastadt (Helmut Lachenmann)

V: Breitkopf & Hantel

8. ANGELION für 16 Instrumente (1962/63)

unaufgeführt, unveröffentlicht

9. WIEGENMUSIK für Klavier (1963)

U: 1.4.1964 Darmstadt (Helmut Lachenmann)

V: Breitkopf & Hantel

10. INTROVERSION 1 für Kammerensemble (1963)

U: 19.7.1964 Darmstadt (Internationales Karnmerensemble Darmstadt,

Leitung: Bruno Maderna)

V: Herbert Post Presse/Edition Tonos

11. INTROVERSION II für Kammerensemble (1964)

U: 23.2.1966 München (Ein Kammerensemble,

Leitung: Jochem Slothouwer)

V: Edition Tonos

12. SCENARIO für Tonband (1965)

U: 20.6.1965 Belgischer Rundfunk

unveröffentlicht

13. STREICHTRIO 1(1965)

U: 29.3.1966 Gent (Societä Cameristica Italiana)

V: Edition Modern

14. TRIO FLUIDO für Klarinette, Viola und Schlagzeug (1966)

U: 5.3.1968 München (Eduard Brunner, Franz Scheßl, Michael W. Ranta,

Leitung: H.Lachenmann)

V: Breitkopf & Härtel

15. INTERIEUR I für einen Schlagzeugsolisten (1965/66)

U: 14.8.1967 Santa Fe', New Mexico, USA (Michael W. Ranta)

V: Edition Modern/Deutscher Verlag für Musik

16. CONSOLATION 1 für 12 Stimmen und 4 Schlagzeuger (1967)

U: 3.5.1968 Bremen (Schola Cantorum Stuttgart, Siegfried Fink,

Karl Peinkofer, Michael W. Ranta, Hermann Gschwendtner,

Leitung: Clytus Gottwald)

V: Breitkopf & Härtel

17. CONSOLATION II für 16 Stimmen (1968)

U: 15.6.1969 Basel (Schola Cantornm Stuttgart, Leitung: Clytus Gottwald)

V: Breitkopf & Härtel

18. temA für Höte, Stimme und Violoncello (1968)

U: 19.2.1969 Stuttgart (Gerhard Braun, Hanna Aurbacher, Werner Taube)

V: Breitkopf & Härtel

19. NOTTURNO für kleines Orchester mit Violoncello solo (1966/68)

U: 25.4.1969 Brüssel (Itab Gomez, Karr'merorchester des Belgischen Rundfunks,

Leitung: Giampiero Taverna)

V: Breitkopf & Härtel

20. AIR. Musik für großes Orchester mit Schlagzeug-Solo (1968/69, Neufassung 1994)

U: 1.9.1969, Frankfurt/Main (Michael W. Ranta, Radio-Sinfonieorchester Frankfurt,

Leitung: Lukas Foss)

U der Neufassung: 8.10.1994, Graz (Michael W. Ranta, ORF-Symphonieorchester,

Leitung: Friedrich Goldmann)

V: Breitkopf & Härtel

21. PRESSION für einen Cellisten (1969/70)

U: 30.9.1970 Como (Itab Gomez)

V: Breitkopf & Härtel

22. DAL NIENTE (Intefleur III) für einen Sob-Klarinettisten (1970)

U: 4.6.1970 Nürnberg (Eduard Brunner)

V: Breitkopf & Härtel

23. GUERO. Studie für Klavier (1970, revidiert 1988)

U: 1.12. 1970 Hamburg (Peter Roggenkamp)

V: Breitkopf & Härtel

24. KONTRAKADENZ. Musik für Orchester (1970/71)

U: 23.4.1971 Stuttgart (Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Leitung: Michael Gielen)

V: Breitkopf & Härtel

25. MONTAGE für Klarinette, Klavier und Violoncello (1971)

(Montage von DAL NIENTE, GUERO und PRESSION)

U: 26.1.1971 Frankfurt/Main (Bernd Konrad, Carol Morgan, Hans-Peter Jahn)

unveröffentlicht

26. GRAN TORSO. Musik für Streichquartett (1971/72, Neufassung 1978, revidiert 1988)

U: 6.5.1972 Bremen (Societä Carneristica Italiana)

V: Breitkopf & Hlirtel

27. KLANGSCHATTEN MEIN SAITENSPIEL für drei Konzertflügel und Streichorchester (1972)

U: 20.12.1972 Hamburg (Gerhard Gregor, Peter Roggenkamp, Zsigmond Szathmäry,

Sinfonieorchester des Norddeutschen Rundfunks Harnburg, Leitung: Michael Gielen)

V: Breitkopf & Härtel

28. FASSADE für großes Orchester (1973)

U: 22.9.1973 Bonn (Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Leitung: Kazuyoshi Akiyama)

V: Breitkopf & Härtel

29. ZWEI STUDIEN für Violine allein (1973/74) zurückgezogen

30. SCHWANKUNGEN AM RAND. Musik für Blech und Saiten (1974/75)

U: 17. 10.1975 Donaueschingen (SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden,

Leitung: Ernest Bour)

V: Breitkopf & Härtel

31. ACCANTO. Musik für einen Soloklarinettisten mit Orchester (1975176)

U: 30.5.1976 Saarbrücken (Eduard Brunner, Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken,

Leitung: Hans Zender)

V: Breitkopf & Härtel

32. SALUT FÜR CAUDWELL. Musik für zwei Gitarristen (1977)

U: 3.12.1977 Baden-Baden (Wilhelm Bruck, Theodor Ross)

V: Breitkopf & Härtel

33. LES CONSOLATIONS für Chor und Orchester (1967/78)

(1: Präludium, II: Consolation 1, III: Interludium, IV: Consolation II, V: Postludium)

U: 10.8.1978 Darmstadt (Südfunk-Chor, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart,

Leitung: Peter Eötvös)

V: Breitkopf & Härtel

34. TANZSUITE MIT DEUTSCHLANDLIED. Musik für Orchester mit Streichquartett

(1979/80)

U: 18.10.1980 Donaueschingen (Berner Streichquartett,

SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden,

Leitung: Sylvain Cambreling)

V: Breitkopf & Härtel

35. EIN KINDERSPIEL. Sieben kleine Stücke für Klavier (1980)

U: 17.2.1982 Toronto (Helmut Lachenmann)

V: Breitkopf & Härtel

36. HARMONICA. Musik für Orchester mit Solo-Tuba (1981/83)

U: 15.5.1983 Saarbrücken (Richard Nahatzki, Rundfunk-Sinfonieorchester

Saarbrücken, Leitung: Hans Zender)

V: Breitkopf & Härtel

37. MOUVEMENT (- vor der Erstarrung) für Ensemble (1982/84)

U: 12.11.1984 Paris (Ensemble !nte&ontemporain,

Leitung: Peter Eötvös)

V: Breitkopf & Härtel

38. AUSKLANG. Musik für Klavier mit Orchester (1984/85)

U: 18.4.1986 Köln (Massimiliano Damerini, Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester,

Leitung: Peter Eötvös)

V: Breitkopf & Härtel

39. DRITTE STIMME zu J. 5. Bachs zweistimmiger Invention d-moll für variable Besetzung (1985)

U: als Version für zwei Klaviere 1986 München (Gunilde Cramer, Yukiko Sugawara)

V: Breitkopf & Härtel

40. TOCCATINA. Studie für Violine allein (1986)

U: 20.5.1988 Stuttgart (Joachim Schall)

V: Breitkopf & Härtel

41. STAUB. Für Orchester (1985/87)

U: 19.12.1987 Saarbrücken (Rundfunk~Sinlonieorchester Saarbrücken,

Leitung: Myung-Whun Chung)

V: Breitkopf & Härtel

42. ALLEGRO SOSTENUTO. Musik für Klarinette/Baßklarinette, Violoncello und Klavier (1987/88)

U: 3.12.1989 Köln (Eduard Brunner, Walter Grirnmer, Gerhard Oppitz)

V: Breitkopf & Härtel

43. ZWEITES STREICHQUARTETT (,,Reigen seliger Geister") (1989)

U: 4.6.1989 Genf (Arditti-Quartett)

V: Breitkopf & Härtel

44. TABLEAU für Orchester (1988/89)

U: 28.9.1989 Hamburg (Hamburgisches Philharmonisches Staatsorchester,

Leitung: Gerd Albrecht)

V: Breitkopf & Härtel

45. ZWEI GEFÜHLE, MUSIK MIT LEONARDO für Sprecher und Ensemble (1991/92)

U: 9.10.1992 Stuttgart (Ensemble Modern, Leitung: Peter Eötvös)

V: Breitkopf & Härtel

Das folgende Zitat ist entnommen dem Buch: Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung Wiesbaden 1996

Siciliano - Abbildungen und Kommentarfragmente

(Für Hans Zender, dem die Tanzsuite mit Deutschlandlied gewidmet ist)

Wie bemerkt: Jede Schranke, wenn sie als solche gefühlt wird, ist bereits überschritten. Doch ebenso: Keine Schranke wird tätig überschritten, ohne daß  gemeintes Ziel in echten Bildern und Begriffen vorherzieht und in dergestalt bedeutende Verhältnisse versetzt. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung

Als beliebte Ausflugsziele und   repräsentative Zufluchten einer Gesellschaft, die - bei aller Überlebensangst - hartnäckig vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Widerspruch davonläuft, vermögen dieselben vertrauten ästhetischen Erfahrungen,

,,Kunstwerke", die uns höchste geistige Freiheit und wahre Heimat verkörpern, zugleich fremd, feindlich und beklemmend auf uns zu wirken. Komponieren, das, so beklommen, seinerseits das Weite sucht, verfängt sich dabei dennoch immer wieder im Netz bereits vergesellschafteter ästhetischer Kategorien.

Meine Tanzsuite mit Deutschlandlied setzt an Maschen dieses Netzes selbst an: Am Anfang steht nicht die Illusion frei verfügbaren und gestaltbaren Klang- und Zeitraums, sondern stehen vorgegebene Zeitraster, vertraute, "öffentliche", rhythmische und gestische Muster. Deren Setzung und Zersetzung: Fluchtversuch in die ,,Höhle des Löwen", will sagen: ins eigene unerkannte, sich im Wahrnehmen wahrnehmende Ich über die strukturelle Sensibilisierung.

,,Siciliano" eröffnet, nach einer insgesamt einleitenden ersten, die zweite Abteilung und bildet eine Art Exposition der zugrundeliegenden materialtechnischen Idee. Verlauf und Struktur sind auf den beigegebenen Abbildungen ausschnittsweise exzerpiert und recht und schlecht veranschaulicht.

Eine spielerisch permutierte Kette von Siciliano-Rhythmen (nicht nur die Bachsche Hirtensinfonie stand Pate) verhalf zu einem vorläufigen pulsierenden Zeitraster (in den Abbildungen oben eingetragen). Bevor er zerfällt - denn das ist seine Bestimmung-, bildet er den Grund von vier Stadien:

CD Helmut Lachenmann 1 (1994) Nr.7, 00:00-01:20

als Gerüst für eine vielfach verspannte Polyphonie von Figuren, deren Klangpartikel sich im Hinblick auf die eigene, energetisch bestimmte Körperlichkeit zuspitzen, aber sich auch in Vorbereitung des Bach-Zitats charakteristisch zusammenschließen (Takte 70-100),

CD Helmut Lachenmann 1 (1994) Nr.7, 01:20-01:42

als Gerüst eines Ausschnitts der Bachschen Hirtensinfonie aus dem Weihnachtsoratorium, beziehungsweise hier seiner klanglich verfremdeten Projektion (Takte 101-109),

CD Helmut Lachenmann 1 (1994) Nr.7,02:05-02:57

(nach einer Vorwegnahme des ,,Nachspiels", Takte 110-117, CD 01:42-02:05) eingeebnet zum gestisch-klanglich entleerten Morserhythmus à la Sicilienne auf einem einzigen Klavier-Sekundklang, der als zugleich erstickter und verhallter auf die klangliche Komplexität des vorigen mit halluzinativem Reichtum antwortet (Takte 118a-118s),

CD Helmut Lachenmann 1 (1994) Nr.7,02:57-03:53

schließlich in quasi ostinater Stereotypie verharrend: als musikantisches Gerüst für ein Tänzchen des Soloquartetts und so im Zerbröckeln sich verwandelnd in den Vierer-Raster des anschließenden ,,Capriccio" (welches seinerseits später zur ,,Valse lente" übergeht, indem es dieser jeden dritten seiner Taktpfeiler als neue, unendlich träge Schlageinheit weitervererbt ("Nachspiel" Takte 119-132)).

ad I:

,,Energetisch bestimmte Körperlichkeit" zweifach vorgeordnet:

im Hinblick auf die

mechanische Hervorbringung

geblasen

gestrichen

geschlagen

gestoßen

gezupft

gezischt

gewischt

gepreßt

technische Bedingungen

Art des Instruments

Ort, wo es traktiert wird,

spieltechnische Modifikationen

"normal" gegriffen

gedämpft

erstickt

"pedalisiert"

forte

piano usw.;

Instrumentalverfremdungen als Resultat einer von anderen Instrumenten übertragenen Spielweise

und im Hinblick auf

akustisch beziehbare Wirkungen

tonhöhen- beziehungsweise intervall-bestimmt,

geräuschhaft,

erstickt,

tonlos,

knatternd,

hallend usw.

Solche Vorordnungen gelten für das ganze Werk, und nicht nur für dieses. Die für den ,,Siciliano" strukturbildenden Abstufungen sind in den Abbildungen durch kleine Symbole gekennzeichnet (siehe die Zeichenerklärung auf Abb. 1, S.181). Seine besondere Klanglichkeit bestimmt sich einerseits aus der Vermittlung, das heißt vielfachen Abwandlung und Gegenüberstellung von zunehmend konzentrierten Spielformen (,,Zuspitzungen") mit heterogen zusammengesetzten vertikalen Kopplungen (,,Mixturen"), andererseits durch die Idee der ,,horizontalen Mixtur", nämlich des klanglich homogen oder heterogen zusammengesetzten Rhythmus. Der Siciliano-Gestus als rhythmisch verspanntes ,,Arpeggio" wirkt so auf die eigene Klanglichkeit ein.

,,Polyphonie von Figuren" - kategorisch wären die folgenden Ebenen - zunächst - auseinanderzuhalten:

1. Siciliano-Rhythmen: Ihre eindeutigsten Formen erscheinen in der Abbildung rechteckig eingerahmt, andere blieben indessen ungekennzeichnet, sind aber leicht zu erkennen.

2. Bewegungen in starrem Viertel-, Achtel-, Sechzehntel- usw. Abstand: Sie sind in der Abbildung kenntlich gemacht  durch ein R im Kreis.

3. Breiter gehaltene Flächen, quasi kontrapunktierende ,Orgelpunkte" im weitesten Sinn, innerlich bewegt oder starr: Sie sind gekennzeichnet durch ,,ten:".

4. Appoggiaturen wie Triller, Praller, Vor- und Nachschläge, sozusagen Pseudo-Verzierungen unterschiedlichster Art. Auf deren ausdrückliche Kennzeichnung in der Abbildung wurde verzichtet.

Keine Frage übrigens, daß die Abwandelbarkeit auf allen vier Ebenen ambivalente beziehungsweise polyvalente Deutungen bei einzelnen Gestalten zuläßt - der Siciliano-Rhythmus als Ostinatofigur erfahrbar zugleich als ,,R" und als ,,ten:" usw. -, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden soll.

Vor allem in den ersten drei Kategorien wurde noch unterschieden zwischen

,,geschlossenen" und

auf mehrere Instrumente ,,verteilten" Figuren,

letztere nochmals unterteilt in ,,homogene", nämlich aus derselben Spielweise bestehenden, und

,,heterogenen" Figuren, in denen sich verschiedene und verschieden zusammengesetzte energetische Klangformen im Nacheinander ergänzen: eben jene schon erwähnten ,,horizontalen Mixturen" bilden.

(Die Bestimmung der Tonhöhen bedürfte einer besonderen Abhandlung, sie wird hier unterschlagen. Einzeltöne sind prinzipiell behandelt als Komponenten von ,,synthetischen" Mixturen, nämlich symmetrisch oder kontinuierlich wachsenden beziehungsweise schrumpfenden oder nach anderen Regeln konstruierten, aber auch ,,naturwüchsig" angetroffenen Intervallanordnungen. Zu letzteren gehört zum Beispiel die Versammlung des charakteristischen Repertoires von nachhallfähigen Flageolett-Pizzicati des Solo-Quartetts zu Beginn des ,,Siciliano". Solcher hier nicht näher beschriebene Umgang erlaubt am ehesten die Integration jener ,,natürlichen" Klang- und Geräuschspektren, deren innere Tonhöhen- und Intervallstruktur als Resultat etwa von spieltechnischer Verzerrung sich einer Tonhöhen-Vorordnung (im tonalen oder seriellen Sinn) entziehen - man denke etwa an die unvorhersehbaren Tonhöhen gestrichener Becken.)

Die Entwicklung der "perforierten" Klangebene (im unteren Teil der Abbildungen) ist vielleicht am einfachsten abzulesen. Die Klangverwandtschaft gepreßter Saiten mit dem ("gepreßten") Trompetenklang, gestopften Hörnern oder auch dem knarrenden tiefsten Kontrafagott-Ton stellt dabei noch Beziehungen her zu den tonhöhenbestimmten geblasenen, aber auch etwa zu den mit Reibestock auf Xylorimba hervorgepreßten Klängen, die zusammen mit geschlagenen, gezupften und getupften Klängen in die mittleren Fünfliniensysteme eingezeichnet sind.

(In der Partitur ist die "gepreßte" Spielweise noch vielfach differenziert: vor und hinterm Steg, auf I., II., III., IV. Saite, bei erstickter oder offener Saite, bei festem Griff; ähnliche Abwandlungen auch bei den gepreßt geriebenen Becken.)

Tonlose Gestalten sind im oberen Teil der Abbildung, direkt unterhalb der "rhythmischen Leiste" eingezeichnet. Als energetischer Kontrast zur "perforierten Klangebene" (mit der sie latente Beziehungen hat, die erst später, in der "Polka", zum Tragen kommen) hat die tonlose Ebene eher das "Tenuto" gepachtet und führt so ein lebhaftes Schattendasein. Dabei erweist sich die Etikettierung "tonlos" als voreilig: Nicht nur wirken tonloses Tremob der Streicher, Legno-, Pauken- und Trommel-Wische mit tonlosem Zischen von Blechbläsern zusammen, sondern übers "ff possibile" von Flöten-Luftstößen und über halbe, schließlich gar feste Griffe der Streicher sowie übers Scharren von Xylorimba-Platten bis ins offene Crescendo des Paukenwirbels am Ende des II. Stadiums setzen sich "normale" Spielweisen gerade in dieser Ebene als verfremdete "heisere Tonlosigkeit" im real klingenden Bereich durch. Der ganze "Siciliano" lebt von solcher Klang-Dialektik.

Zum Verlauf

Die sieben Abschnitte a) bis g) des 1. Stadiums sind verschiedene Phasen einer Entwicklung, ausgehend von einer Art Exposition der gesetzten Klang- und Bewegungs-Kategorien bis zu ihren Zuspitzungen vom Abschnitt e) an. Alle beschriebenen Gestalt- und Klangtypen sind im ersten Abschnitt exemplarisch kombiniert, im zweiten exemplarisch voneinander getrennt. Der in Kästchen gesetzte Siciliano-Rhythmus hat über alle Klangebenen hinweg quasi motivische Funktion. Die übrigen "verteilten", "regelmäßigen" beziehungsweise "Tenuto"-Gestalten lassen sich daneben unterscheiden.

Abschnitt b) führt "Hall" und, damit verbunden, Crescendi ein. Auch sie bilden Sequenzen quer durch die hier so ordentlich aufgeteilte Klanglandschaft.

Jene "Zuspitzungen" in e):

Fell- und Legno-Wische ,

fff-Bläsereinsatz als Mixtur über dem geschlossenen Rhythmus auf gepreßten Klaviersaiten (Takt 86),

Legno-battuto-Skalen (Takt 86,87)

und (schon nicht mehr ganz)

"tonlose" Rhythmen-Kombinationen,

ebenso in

f): Crescendo- und Hallklang-Kombinationen und die schon erwähnten gepreßten Becken-Tenuti: Sie erschöpfen das Material.

Es bricht aus in Woodblock-, Pauken-, Tomtom- und Kesselschläge, quasi Super-Pizzicati; sie relativieren den Klangzusammenhang neu. Im (nun nicht mehr tonlosen) Tremolo bereitet sich der Orgelpunkt des Bachzitats vor, die perforierte Klangebene verschwindet hinter der tonlosen, geblasenen: Die Hirtenmusik wird so zum Schattenriß entfremdet. Vom pastoralen Espressivo zeugen noch die tonlosen Crescendi. Die tiefen Bläser- und Kontrabaßfiguren sind natürlich verzerrte Tonlosigkeit ebenso wie die Flötenpfiffe und die in extremer Lage "singenden" Geigen.

Mit der Fortführung des Zitats im streng phrasierten Beckenrhythmus und dessen Beantwortung auf gepreßten Violinsaiten (Takt 106) findet die Heiserkeit zur Heiterkeit zurück. Auch der Tremolo-Orgelpunkt, aus sich auftürmenden großen Septimen paraphrasiert, hatte sich als Nachhall des Klavier-Rahmenschlags bis zum Paukenwirbel erhitzt: Zurück bleibt von ihm noch der tremologescharrte Xylorimbaklang im schwächlichen "if possibile". Im Übergang zum III. Stadium nimmt die Musik hier Abschied von der strukturellen Zerklüftung und wagt auf größerer Fläche zu atmen. Zugleich aber verschwindet im III. Stadium (der Übergang ist hier nicht abgebildet) die ganze bisher errichtete Klangwelt hinter dem erstickten und pedalisierten höchsten Kleine-Sekund-Klang des Klaviers. Dieser, lediglich durch Lautstärkeschwankungen, Akzente und pedal-Phrasierung modifiziert, wird zum Echo der voraufgegangenen Vielfalt, Ohr und Konzentration innerlich weiterbeschäftigend. Einwürfe des Solo-Quartetts fungieren hier als "Verzierungen", ebenso die eingeschobenen Reibklänge auf der Xylorimba in völlig querstehendem Eigentempo: "Schlaf, Kindlein, schlaf' (auch ein Deutschlandlied), siehe Abbildung 2, S. 184.

Das Schlaflied bildet auch die Klammer zum Schlußteil. Im klanglich entleerten Morserhythmus war der strukturelle Ansatz verschwunden, das Zeitband lief seither "leer" weiter, die Leere wurde zum erfüllten Zustand: aus der so gereinigten Situation als Nachspiel den (hier weggelassenen) Übergang zum III. Stadium wieder aufgreifend, so selbst nun ein IV. Stadium bildend, dabei schon ins "Capriccio" hinüber zerbröckelnd, fängt die Musik an zu "musizieren", wobei sie sich jenen "horizontalen Mixturen" hingibt, die zuvor als Klanggewitter zwischen den mehr und mehr zugespitzten Extremen unauffällig geblieben waren. Ihre spieltechnische Buntheit, eingegrenzt durch den Streichquartett-Rahmen, schafft eine nicht weniger leere und statische Klangsituation als das morsende Klavier zuvor. Meine Musik "wiegt sich" hier einige Takte lang in der Illusion, das "Weite" - einen charakteristisch gereinigten Raum -gefunden zu haben: vielleicht das subjektive Glücksmoment des kleinen Mädchens aus Andersens Märchen, an jener kalten Mauer Wänne spürend, bevor das Streichholz wieder ausgeht.