An der Quelle ist das Wasser am reinsten!  - Einige Gedanken zum "Musiktheorieunterricht", insbesondere zu dem Verhältnis von kompositorischem Regelwerk zur Improvisation (Lutz Felbick)

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Seit einigen Jahren verfolge ich die aktuellen Musiktheorie-Diskussionen. Angeregt durch unsere Tagung in Stuttgart im Januar 1999 hat insbesondere die Frage nach einem von der Musikgeschichte geprägten Denken zu ausführlichen Beiträgen in der Zeitschrift "Musiktheorie" (Heft 4, 1999) geführt. Eine gewisse Analogie zu den Prinzipien der historischen Aufführungspraxis wurde dabei betont.

Im Mittelpunkt dieser zum Teil sehr kontrovers geführten Gespräche stand die Frage, inwiefern durch das Nachvollziehen der musikhistorisch bekannten Tonsatz-Gegebenheiten der Zugang zu den entsprechenden Musikwerken erleichtert werden kann. Hintergrund ist die zweifellos richtige Erkenntnis, dass an der Quelle eines Flusses das Wasser am meisten Klarheit aufweist. Deshalb könnte es für die Musik wichtig sein, alle sichtbaren Hinterlassenschaften aus der Vergangenheit, insbesondere die in den Tonsatzlehrbüchern sich dokumentierenden Tonsatzregeln zu studieren. Ich möchte mich dieser Auffassung nur bedingt anschließen, bzw. sie modifizieren. Ich bin zwar der Meinung, dass die Kenntnis der Kategorien, in denen Komponisten dachten, wichtig ist. Ob sich dies aber schwerpunktmäßig durch die Musiktheorieliteratur einer Zeit vermittelt, wie in diesem Zusammenhang vielfach behauptet wurde, wage ich zu bezweifeln.

Zweifellos sind Lernerfolge vor allem dann zu verzeichnen, wenn der Lerngegenstand bis zu seiner historischen Quelle studiert wird und der Gesamtprozeß vom Ausgangspunkt bis zum Endergebnis möglichst genau nachvollziehbar ist. Übertragen auf das Fach Tonsatz hieße das: Man wird dem Verständnis einer Komposition in satztechnischer Hinsicht am meisten gerecht, wenn man ihren Entstehungsprozeß möglichst genau nachempfinden kann.

So will auch unser sogenannter "Musiktheorieunterricht" Einblick in die Arbeitsweise der Komponisten geben. Was wir aber bieten, ist nach meiner Überzeugung vom wirklichen kreativen Prozeß des Tonsetzers sehr weit entfernt. Ich kenne keinen bedeutenden Komponisten, bei dem die theoretische Kenntnis des satztechnischen Regelwerks am Anfang seines kreativen Prozesses gestanden hat. Nach allem was wir heute über Komponisten wie Bach oder Brahms wissen, entwickelte sich deren Kompositionstätigkeit in erster Linie aus ihrem praktischen Spiel, aus ihrer Freude am real entstehenden, durchgehörten Klang, und vor allem aus dem lebendig gepflegten extempore-Spiel.

Wenn wir heute im Tonsatz diesem auditiv-praktischen Ausgangspunkt wenig Bedeutung schenken, folgen wir einer Entwicklung, die zwar konsequent die Dominanz des visuellen Denkens im 20. Jahrhundert weiterführt. Vom kulturellen Gedankengut vergangener Zeiten sind wir, meiner Meinung nach, Lichtjahre entfernt: Unser musikalisches Bewußtsein ist geprägt von der Fülle des uns zur Verfügung stehenden Notenmaterials, musikpädagogischer Literatur , musikwissenschaftlichen Forschungen und einer unübersehbaren Fülle von Tonkonserven. Außerdem gibt es allgemeine kulturelle Prägungen im Umgang mit den klingenden Kulturgütern, die uns weniger bewußt sind: die ursprünglich als Klang in Erscheinung tretende Sprache existiert heute - in viel größerem Maße als zur Blütezeit der Polyphonie - in Form von gedruckten oder elektronisch zur Verfügung stehenden Lettern, dem Setzkästchenprinzip ("Tonsatz") folgend. Walter J. Ong spricht in seinem Buch "Oralität und Literalität" von der Technologisierung des Wortes. Auch in dem Buch "Schrift und Gedächtnis" ist die abendländische kulturelle Entwicklung von einer oralen Kultur, in der vieles schriftlos durch mündliche Überlieferung tradiert wird zu einer Schriftkultur aufgezeigt. In einem besonderen Kapitel geht der Mitautor Robert Lug auch auf die "Schriftlose Musik" ein. "In fernwirkender Konsequenz dieser Entwicklung bringt unser Musikunterricht heute jene Opfer hervor, die ohne Notenblatt nichts spielen und nichts singen können. Man male sich Menschen aus, die kein Wort über die Lippen bringen, das nicht im "Buche" steht." Auch Horst Wenzel vermittelt in seinem Buch "Hören und Sehen, Schrift und Bild - Kultur und Gedächtnis im Mittelalter" eindrücklich, wie groß die Distanz zu jenen entfernten Zeiten ist: Er stellt fest, dass in einer Gesellschaft, in der die Schrift nur eine sekundäre Rolle spielt, das Hören und das Gedächtnis eine dominierende Rolle spielt. Deshalb wundert eigentlich wenig, dass heutre die Leistungen in unserm Fach Gehörbildung oft so mager ausfallen. Noch im 19. Jahrhundert konnte Robert Schumann seine MUSIKALISCHEN HAUS- UND LEBENSREGELN mit dem Satz beginnen: "Die Bildung des Gehörs ist das Wichtigste." Die Prioritätensetzung zeigen, dass dieses heute an der nach Robert Schumann benannten Hochschule nicht mehr der Fall ist. Gehörbildung ist ein dem Tonsatzinstitut angehängtes und dort in den Konferenzen wenig diskutiertes Fach. So sind die Prioritäten im Laufe des 20. Jahrhundert auf den Kopf gestellt worden. Wir stellen fest, dass eine ernsthafte historische Sichtweise, mit der wir die sich die uns völlig fremde kulturelle Vergangenheit jenseits des 20. Jahrhunderts erschließen wollen, eine nur schwer zu bewältigende Herausforderung ist. Angesichts dieser Überlegungen scheint es naiv, sich ausschließlich mit dem Studium einiger Kapitel aus den gängigen Tonsatztraktaten hier einarbeiten zu können.

Ohne Frage sind wir mit unseren Methoden weit entfernt von den Verfahrensweisen der zur Diskussion stehenden Komponisten. Das schriftlose (!) Spielen des Chorals bzw. Volksliedes im Kontext mit dem Gesang war zweifellos viele Jahrhunderte Basis und Quelle unserer Musikkultur. Wie soll jemand, dem dieses Stegreifspiel fremd ist, diesen Ausgangspunkt unserer ursprünglich wenig von der Schriftkultur geprägten Musikgeschichte verstehen?

Die Improvisationsfähigkeit gab den Musikschaffenden genügend empirisches Wissen "in die Hand". Für diese Musiker hatten derartige theoretisch erworbenen Regeln allenfalls die Aufgabe, die vorhandenen Kenntnisse zu vertiefen, zu abstrahieren und so auf eine solide Basis zu stellen.

Dass Improvisierende diese Regeln benutzen, ohne sie exakt zu formulieren, ist für verschiedenen Stilistiken nachzuweisen. So z.B. schon für den improvisierten Kontrapunkt des 13. /14. Jahrhunderts. Hier heißt es, die handwerkliche Kenntnis sei entstanden "per experientiam" bzw. "per usum". Zitat aus: K.J. Sachs, Die Contrapunktlehre im 14. und 15. Jh., in: Frieder Zaminer: Geschichte der Musiktheorie, Bd. 5, Darmstadt, 1984f. S. 169 (hier: Johannes de Grocheio Musica um 1300). Auch im Jazz habe ich persönlich vielfach derartige Improvisationserfahrungen machen können.

Wollte man heute satztechnisches Wissen im Sinne dieses kompositorischen Denkens vermitteln, so müßte den hier vollzogenen Weg wenigstens in Ansätzen nachvollziehen. Es versteht sich von selbst, dass dabei im Rahmen der wenigen zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit Abstriche zu machen sind. Aber das Problem liegt doch darin, dass wir uns beispielsweise um die Vermittlung eines Wissen über komplexe Modulationstechniken für Studierende bemühen, die Schwierigkeiten mit dem satztechnischen Verständnis in einer gleichbleibenden Tonart haben. So vermitteln wir einen schwierigen Lehrstoff, obwohl der Basislehrstoff noch gar nicht begriffen und nachempfunden ist. Der daraus resultierende allgemeine Unmut gegen unser Fach beweist, dass Fehler gemacht werden.

Der Fehler besteht nach meiner Auffassung darin, dass wir heute unreflektiert mehr oder weniger ein Konzept von Musiktheorieunterricht des 19. Jahrhunderts weiterführen, das damals von anderen Voraussetzungen ausging.

Riemann konnte das lebendige Lied- und Choralspiel noch voraussetzen und die hier allgemein gebräuchlichen Akkorde dann in einem nächsten Lernschritt in einem Abstraktionsverfahren analysieren. Man sollte aber nichts abstrahieren, was man als Einzelerscheinung noch nicht gründlich begriffen worden ist - "begreifen" wörtlich gemeint. Es ist eine dem Gegenstand unseres Berufes adäquate Wahrnehmung, Musik nicht nur visuell im Schriftbild zu betrachten, sondern sie klingend nachzuvollziehen, d.h. den Tonsatz durch eigenes "Begreifen" zum Klangereignis werden zu lassen. Musik als Zeitkunst sollte die etwas unmusikalisch klingenden Fermatenakkordpunkte durch eine sinnvolle musikalische Zeitgestaltung ablösen, d.h. durch eine - wenn auch noch so unvollkommene - Spielpraxis von Liedern und Improvisation.

Deshalb muß ein der Musikgeschichte angemessenes Musikstudium nach meiner Auffassung dringend wieder auf der Basis eines qualifizierten Improvisationsunterrichtes stattfinden. Man mag einwenden, dass dabei "Nicht-Pianisten" im Nachteil sind. Das mag wohl sein, aber es muß auch die Gegenfrage gestattet sein, ob denn Musiker, die nie gelernt haben, mehrstimmig zu denken, dies durch einen knapp bemessenen theoretischen Unterricht lernen werden. Ich glaube, dass das Defizit der "Nicht-Pianisten" letztlich in dieser Zeit kaum aufzuholen ist. Aber es gibt auch hier Kompromiss-Lösungen.

Die Komplexität des Faches und die Situation des derzeitigen Musiklebens will es, dass wir uns noch einem weiteren Problem zu stellen haben. Es gibt heute weder eine breite Tradition des praktischen Choralspiels noch des lebendigen Volksliedspiels. Es gibt lediglich eine vom Jazz beeinflußte Spielpraxis, die zu einem neuen "Liedgut" geführt hat. Was früher Volkslied war, heißt heute - bei aller hier notwendigen Differenzierung - Popmusik. Durch die spezielle deutsche Musikgeschichte der Nazizeit hat das musikalische Denken sowohl bezüglich des seinerzeit mißbrauchten Volksliedes als auch bezüglich der als entartet geltenden "Negermusik" eine verkrampfte Entwicklung genommen. Unmerklich ist auch unsere Nachkriegsgeneration beeinflußt : In dem 1998 aufgelegten Musiklexikon MGG wird dem Leser der Name des 1926 geborenen Miles Davis vollständig vorenthalten. Die Erwähnung von manchen später geborenen und weniger im Rampenlicht der globalen Musikgeschichte stehenden Persönlichkeiten hatten für die Herausgeber offensichtlich eine höhere Priorität. Das Phänomen des afro-amerikanischen Einflusses auf die Musikkultur ist oft beklagt worden, ignorieren kann man es im 21. Jahrhundert nun nicht mehr. Glücklicherweise fand ein fast allerorts bemerkter Wandel des öffentlichen Musikdiskurses statt. Jazz gilt inzwischen als ein von der Kulturgemeinschaft anerkannter Musikstil und wird als grundlegender Beitrag zur Zeitgenössischen Musik akzeptiert. Wo schlägt sich das, was an anderen Hochschulen als eine Selbstverständlichkeit betrachtet wird, in unserer eigenen Musiktheoriediskussion nieder?

Wäre es nicht denkbar, ein Basis-Tonsatzwissen erst einmal auf der Basis dieses zeitgenössischen improvisierten Liedes zu entwickeln? Es gibt etliche positive Erfahrungen, die an Musikschulen gemacht werden, die derartige Prioritäten mit Hilfe pädagogischer Konzepte von entsprechend qualifizierten Jazzmusikern setzen. Was spricht dagegen, an die Stelle einer Passacaglia eine entsprechende elementare Jazzimprovisation zu setzen und dann im zweiten Schritt auch historische Modelle zu nennen? Die Tonsatzprinzipien dieser beiden aus der Improvisation stammenden Techniken sind doch ähnlich. Was spricht dagegen, an die Stelle eines Volksliedes das Spiel eines Songs aus der Popmusik zu setzen? Was spricht dagegen, das Akkordmaterial nicht anhand von Chorälen zu studieren, deren Konnotationen bei den meisten Studierenden Befremden auslösen. Die Wahrscheinlichkeit, dass durch afro-amerikanische Musik Interesse am Fach Tonsatz geweckt wird, kann zwar kein Patentrezept sein, ist aber gegenüber den derzeitigen Praktiken näherliegend, zumal die praktische Anwendung insbesondere für die musikpädagogischen Tätigkeiten immer mehr gefordert ist. Da dies das Hauptarbeitsfeld der meisten Studierenden sein wird, ist also das Rechtfertigungsproblem der Musiktheorie auch nicht mehr so groß. All das hätte dann zu geschehen im Zusammenhang mit einem gründlichen an der Praxis orientierten Gehörbildungsunterricht. Voraussetzung ist selbstverständlich auch eine differenzierte theoretische Kenntnis des Phänomens "Improvisation", wie es beispielsweise in dem Buch von Derek Bailey "Improvisation- Kunst ohne Werk" vermittelt wird.

Der populärste Hörforscher der Bundesrepublik, Joachim Ernst BEHRENDT (1985), formuliert in der ihm eigenen plakativen Weise: "Wer hört, improvisiert". Unbestritten tragen sowohl Kompositions- als auch Improvisationsversuche, und seien sie auch noch so unvollkommen (!), (SCHÖNBERG Stil und Gedanke,1950/1976, 101 bzw. 140) am besten dazu bei, innere Klangvorstellungen umzusetzen und zu entwickeln; andererseits wird derjenige, der innere Klangvorstellungen hat, den Wunsch haben, diese umzusetzen. Leider hat man allerdings in unserer heutigen, vom Wettbewerb geprägten desolaten Musikkultur schneller Erfolg, wenn man Kompositionen von anderen nachspielt. Das führt zu der paradoxen Situation: "Vom Instrumentalisten wird [heute] nicht verlangt, daß er Musik macht." (BAILEY 1987, 148) Das war nicht zu allen Zeiten so. Andreas WERCKMEISTER (Erweiterete und verbesserte Orgelprobe 1698, Cap. 32) meint, man solle "nicht jedem Prahler alsobald glauben" nur weil er in der Lage ist, etwas nach Noten auswendig vorzutragen, denn das extempore-Spiel sei sehr wichtig und es sei "nicht genug, daß man sich mit anderen Federn schmücke." (WERCKMEISTER, Harmonologie Musica, 1702, §128)

Die in diesem Zusammenhang oft beklagte angebliche "fehlende Musikalität der Studierenden" ist ein oft benutztes Schlagwort, gleichzeitig eine bequeme Entschuldigung, sich den Herausforderungen der eigenen Grenzen der pädagogischer Arbeit nicht zu stellen. In den seltensten Fällen basiert eine solche vernichtende Diagnose auf eigenem fundiertem Fachwissen im Bereich der musikalischen Begabungsforschung. Der für diesen Berecih kenntnisreichste MGG-Autor Heiner Gembris  bezeichnet derartige undifferenzierte Pauschalurteile in seinem grundlegenden Lehrbuch "Grundlagen musikalsicher Begabung und Entwicklung" etwas abfällig als "Alltagstheorien über Musikalität". Solche Alltagstheorien sind unangemessen für das Niveau einer differenziert arbeitenden Hochschularbeit, sind aber auch dort gelegentlich zu vernehmen.

Demzufolge könnte die Curriculum-Diskussion nach gründlicher Reflexion dieser Fülle von Phänomenen zu folgenden Lehrinhalten und Prioritäten kommen:

  1. Spielpraxis / Improvisation: Jazz und Popmusik auf der Basis von Akkordsymbolen.
  2. Spielpraxis / Improvisation: Barockzeit
  3. Theorie- und Analysesysteme: Generalbass, Stufentheorie, Funktionstheorie etc.
  4. Analyse inkl. Klassik / Romantik / 20. Jh.

In der Prüfung würde dann das praktische "Begreifen von Musik" neben den Analysen im Mittelpunkt stehen. Vielleicht darf ich abschließend noch ergänzen, dass heute auch in lernpsychologischer Hinsicht diese praxisorientierte Methode favorisiert wird. So schreibt Wilfried Gruhn in seinem grundlegenden Buch "Der Musikverstand":

"Musikalisches Lernen in diesem Sinn ist verschieden von der Unterweisung in technischen Spielfertigkeiten... Jeder Musikunterricht ist in diesem Sinne Musikunterricht, in dem es neben den und über die technischen Fertigkeiten hinaus immer auch um musikalisches Verstehen und Mitteilen geht. Improvisation ist das zentrale Feld, auf dem diese Fähigkeit geübt und erweitert werden kann."

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir unser Curriculum in dieser Hinsicht grundlegend überdenken.