Lutz Felbick: Kategorien des musikalischen Hörens

H. Riemanns Hörtheorie und die französische Musiktradition

Vortrag anläßlich der Fachtagung Hörerziehung in der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart am 30./31.01.1998

Dieser Text ist ein Vortrags-Manuskript, welches nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Veröffentlichung hat.

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Inhalt

A) Historische Betrachtungen 1750 - 1877 - 1995

B) Die Hörtheorie der französischen Musiktheoretiker und die praktischen und theoretischen Grundlegungen bei Riemann

  1. relative Notationssysteme
    1. melodische Kategorien: Silbentonschriften in Frankreich, England; Deutschland...
    2. melodische Kategorien: Zahlentonschriften bei Rousseau, Galin, Cheve...
    3. harmonische Kategorien: die "Funktionstheorie" Rameaus
  2. Riemanns Hörtheorie: melodische, harmonische, rhythmisch-metrische und formale Kategorien
  3. Reibungspunkte zwischen Theorie und Praxis
  4. Die philosophische Fundierung der Riemann`schen Hörtheorie

C) Konsequenzen

  1. Solfège und Funktionstheorie
  2. visuelle und auditive Funktionstheorie
  3. chromatische und funktionale Modulation
  4. statische und variable Funktionsanalyse
  5. Funktionsanalyse und Zeitfaktor
  6. Funktionstheorie der Neuen Musik

Anhang Fußnoten

A) Historische Betrachtungen: 1750 - 1877 - 1995

"Erleuchtet und zugleich erschüttert durch das System [von] DECARTES', das ich glücklicherweise gelesen hatte, fing ich an, bei mir selbst Einkehr zu halten. Ich versuchte es mit Melodien, ungefähr so, wie sich ein Kind im Singen übte. Ich prüfte, was sich dabei in meinem Verstand und in meinem Ohr ereignete...Freilich gab es einige [Töne] darunter, für die meine Stimme und mein Ohr eine Vorliebe zu haben schienen; dies war eine erste Wahrnehmung. Diese Vorliebe erschien mir jedoch als eine reine Sache der Gewohnheit...Ich fing indessen an zu erwägen und zu prüfen, welche Beziehung zwischen dem gesungenen Ton und den Tönen bestand, die das Ohr und die Stimme mir unmittelbar eingaben, und ich fand, daß diese Beziehung sehr einfach war."(2)

Diese anschauliche Beschreibung der Hörforschung stammt von dem unter dem Einfluß der französischen Aufklärung stehenden Jean-Philippe Rameau. Er schreibt dies im Jahre 1750.

Auch etwa 120 Jahre später macht sich ein Musiktheoretiker ähnliche Gedanken: "Man muß diese Klangfolgen samt und sonders mit seinen eigenen Ohren prüfen und ... Ton- und Klangvorstellungen .. durchdenken ... [Durch] gewissenhafte Selbstbeobachtung während des Denkens" können dann die Gesetzmäßigkeiten gefunden werden... Es kommt nur darauf an, in recht verständiger Weise anzuregen, auf die Natur der Harmonik und auf die logischen Gesetze des Musikhörens und Musikdenkens hinzuweisen; der Schüler der Komposition muß sich, nachdem die Praxis die Gesetzestafeln der alten Schulregeln zerbrochen hat, neuer höherer Gesetze bewußt werden..."(3) So Hugo Riemann in seiner "Musikalischen Syntax", Leipzig 1877.

Beiden Autoren ging es ging darum, das alte Generalbaßsystem abzulösen durch ein aufklärerisches Bewußtsein, bei dem das sich im Denken und Fühlen des Individuums sich offenbarende Wissen und nicht die überlieferten starren Regeln im Mittelpunkt des Interesses stehen. Diesen Musiktheoretikern ging es weniger um die Beschaffenheit und Zusammensetzung der sich in Noten dokumentierenden Töne, also um "Tonsatz", sondern vielmehr um die Frage, wie Musik rezipiert wird, wir würden heute sagen: Es ging beiden Musiktheoretikern um wahrnehmungspsychologische Fragestellungen.

Daß Hugo Riemann einer der bedeutendsten Musikwissenschaftler und Theoretiker um die Jahrhundertwende war, ist sicher unumstritten. Daß er auch zum Thema Gehörbildung wesentliche Beiträge geliefert hat, ist weniger bekannt. Und damit ist nicht in erster Linie sein Werk "Katechismus des Musikdiktats"(4 ) gemeint, welches sich heute durch wesentlich bessere Arbeiten überlebt hat, sondern seine Theorie des musikalischen Hörens. In seinen 1914-16 erschienenen Aufsätzen "Ideen zu einer 'Lehre von den Tonvorstellungen' " macht er deutlich, daß im Mittelpunkt seiner ganzen Forschungen die Beziehungen zwischen dem Hören - genauer "den logischen Funktionen des menschlichen Geistes" - und den musikalischen Ereignissen gestanden hat. So resümiert er hier: "Daß meine eigenen theoretischen Arbeiten bisher nichts anderes waren als Bausteine, Beiträge zur Schaffung einer solchen Lehre [ der Tonvorstellungen] ist mir nicht im geringsten zweifelhaft."(5) Seine Dissertation trägt dann auch zunächst den Titel "Über das musikalische Hören", später präzisierte er dann und bezeichnete diese Arbeit als "Die musikalische Logik"(6). Auch in seiner Geschichte der Musiktheorie 1898 spricht er im letzten Kapitel von der "musikalischen Logik". Er betont, daß Rameau der eigentliche Begründer dieser Logik ist, er selbst sieht sich als Vollender dieses Ansatzes.(7) Riemann definiert in dieser Zeit die zentrale Frage, die zu einer Theorie des musikalischen Hörens führt: "Alles wird natürlich darauf ankommen,... zu ergründen versuchen, welche Kategorien die lebendig arbeitende Tonphantasie leiten und bestimmen, ihr Gesetze geben."(8)

Springen wir unseren historischen Betrachtungen noch etwa 120 Jahre weiter, so erreichen wir die jüngste Vergangenheit. Im Handbuch für Musikpsychologie von Helga de la Motte lesen wir, daß sich der Begriff des Schemas, also einer kategorialen Formung der Wahrnehmung in der jüngsten Entwicklung der kognitiven Psychologie stark durchgesetzt hat. "Wenn von Kategorien der Anschauung gesprochen wird, von Allgemeinbegriffen, Gestalten, Schemata, Vorstellungen, Vorkonstruktionen oder neuerdings auch von Scripts, so ist damit immer gemeint, daß die Wirklichkeit nicht unmittelbar abgebildet wird, sondern vorhandene Strukturen integriert oder aber gemäß diesen teilweise sogar umgeformt werden."(9)

Wir stellen also fest, daß Riemanns wahrnehmungspsychologische Fragestellungen exakt denen der neueren Forschung entsprechen.

B) Hugo Riemann und die französischen Musiktheoretiker

1. relative Notationssysteme

Worin bestehen nun im einzelnen die Leistungen zur Theorie des musikalischen Hörens bei Riemann und den französischen Theoretikern?

Zunächst muß festgestellt werden, daß die hier in frage kommenden Forscher ein Notationssystem erfanden, welches die absolute Tonhöhe abstrahiert. Ein solches Verfahren ist uns heute zwar gut vertraut, aber es lohnt, zwischen beiden Systemen deutlich zu unterscheiden und vor allem den Wert des relativen Notationsprinzips für den hiesigen Zusammenhang zu erkennen.

Die systematische Aufstellung eines relativen Notationssystems war dringend erforderlich, denn das musikalischen Hören -Absoluthörer ausgenommen - kann bekanntlich nicht von absoluten Tonhöhen ausgehen, da solche nicht erkannt werden. Das derzeitige absolute Notationssystem kann für die Erforschung des musikalischen Hörens sogar verwirrend sein. Dies erkannte beispielsweise schon Rousseau indem er schreibt: "In Anbetracht der Mühe, die ich hatte, um Noten vom Blatt lesen zu lernen, und die ich noch habe, um vom Blatt zu singen, glaubte ich schließlich, daß diese Schwierigkeit in der Sache selbst liegen müßte... Als ich die Zeichen näher prüfte, fand ich sie oft schlecht gewählt."(10)

Schon die mittelalterliche "Solfège-Tradition" beruhte bekanntlich nicht auf einer physikalisch festgelegten bzw. allgemein akzeptierten Bezugsfrequenz, sondern auf einem dem Hören adäquaten relativen Notationssystem. Nun zeigt sich in der Geschichte des Solfeggierens in einigen Ländern bedauerlicherweise eine Fehlinterpretation dieses ursprünglichen Gedankens, die darin besteht, die Silbe "ut" bzw. "do" mit der absoluten Tonhöhe "c" gleichzusetzen und bei chromatische Vorgängen diese zu ignorieren. Erst Agnes Hundoegger rückte im deutschsprachigen Raum mit ihrer Tonika-Do-Lehre (Berlin 1897) diese etwas aus dem Gleise geratenen Lehrmethoden wieder ins rechte Licht. Auch sie beruft sich in ihrem Vorwort auf Rousseau. Durch englische(11) bzw. amerikanische Autoren habe sie dann diese Methode kennengelernt.

So verdienstvoll die Silbenschriften der verschiedenen Solfège-Systeme für die Erlernung einfacher Melodien sind, so stoßen sie andererseits an Grenzen, in vielen Fällen schon bei einer Anwendung in Molltonarten(12). Insbesondere wenn ein komplexer chromatisch-harmonischer Zusammenhang gegeben ist, versagen diese ausschließlich am Melodischen orientierten Solfège-Systeme, z.B. bei der Unterscheidung zwischen dem Leitton zur Tonika-Durterz und der zwischendominantischen Terz zum Grundton des Tonikagegenklanges. Abgesehen von der Möglichkeit, durch enharmonische Verwechslung den Wechsel der Tonika-Durterz zur Tonika-Mollterz auszudrücken. Also in C-Dur: dis-e in zwei verschiedenen Bedeutungen bzw. es-e. Bei der Erlernung einfacher Dur- und Mollmelodien scheint auch der pädagogischen Aufwand, der für das Erlernen der Grundsilben und deren chromatische Varianten zu betreiben ist, zu hoch.

Wesentlich einfacher dagegen scheint für die Aufgabenstellung die Tondarstellung mittels Zahlentonschriften. Der bereits schon erwähnte Jean-Jacques Rousseau entwickelte eine universale Zahlentonschrift, die jenseits der absoluten Notennamen liegt. Im Jahre 1742 stellte er sie der Pariser Acadèmie des Sciences vor:

Die sieben ersten Zahlen bezeichnen die sieben Töne der diatonischen Tonleiter. Die Akzidentien werden dadurch gekennzeichnet, daß man die Zahlen in der ein oder anderen Richtung durchstreicht. Ein Punktsystem über oder unter den Noten gibt die Änderung in den Oktaven an. Die rhythmischen Werte werden mittels Balkensetzungen und Verlängerungspunkten kenntlich gemacht. Die Null stellt Pausen dar. Durch Vorzeichnungen werden Tonart, Taktart und Oktavlage des ersten Tones angegeben.

Bedauerlicherweise hat Rameau den Wert des Notationssystems Rousseaus für die Theorie des musikalischen Hörens nicht erkannt, vor allem warf er ihr vor, "die Melodie nicht für das Auge zu zeichnen".(13 )Genau dieser visuelle Aspekt war aber nicht die Absicht Rousseaus. Es war das Verdienst von Pierre Galin und seiner Schule, den Rousseau'schen Gedanken bis ins 20. Jahrhundert zu bewahren.(14)

Rameau interessierte sich vielmehr für den harmonischen Aspekt. Mit dieser Schwerpunktsetzung bringt er zum Ausdruck, daß eine Theorie des Hörens mittels der üblichen Zahlen- oder Silbenschriften unvollständig ist. Das wird man bestätigen, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß die Wirkung einer Melodie in verschiedenen Harmonisierungen durchaus verschieden aufs Ohr wirken kann. Die Abhängigkeit vom harmonischem Kontext muß deshalb berücksichtigt werden. Rameaus bahnbrechende Tat war es nun, die tonikalen, dominantischen und subdominantischen Kategorien zu erkennen und damit die Grundlage einer Theorie des harmonischen Hörens geschaffen zu haben.

2. Riemanns Hörtheorie

Riemann weitet dieses System erheblich aus:

1. Mit seiner Theorie der Klangvertretung kombiniert er melodische und harmonische Ereignisse - Zahlentonschriften und Rameausche Kategorien. Jeden Ton verstand er als Vertreter eines harmonischen Geschehens. Damit wird er dem Wesen der mehrstimmigen abendländischen Musik vom 16. bis zum 19. Jh. gerecht.

Beispiel(15):

1    5    1    3    3    5    1

T - D - T - D - T - D - T  bezeichnet in C-Dur die Tonfolge: c-d-c-h-e-d-c und deren harmonischen

Zusammenhang: Wechsel zwischen C-Dur und G-Dur.

2. Zu den Hauptfunktionen führt er Nebenfunktionen als Unterkategorien ein.

3. Er erweitert die dominantische Kategorie durch den Begriff der Zwischendominante. So wären also die weiter oben Tonfolgen am besten so zu unterscheiden:

1 3 3 1 2< 3 1 3 1

A) T t T; B) T T T ; C) T (D) Tg.

Dabei zeigt sich, daß die Wahrnehmung der tatsächlich erklingenden physikalischen Tonhöhe bei der Vorführung auf einem Tasteninstrument im harmonischem Kontext unmöglich ist: In Beispiel A) und C) fällt die Intonationsbeurteilung des mittleren Tones, insbesondere beim nachvollziehenden Mitsingen, verschieden aus.

4. Sämtliche dreiklangsfremden Töne ordnet er in dieses Systems ein und zwar nicht i.B. auf den Baßton wie im Generalbaß üblich, der ja nur als ein Griffsystem, also ein am Visuellen orientiertes System darstellt, sondern in Bezug auf den Grundton, der auditiv als Bezugspunkt erkannt wird. Aus diesem Grunde bekämpfte er und seine Schüler auch Lehrmethoden, die sich am Generalbaß orientierten. (Statt dessen verwandte er den Klangschlüssel, wie er heute in etwa auch noch bei den Akkordsymbolen des Jazz üblich ist.)

5. In seinem "Handbuch der Akustik" definiert er die Tonvorstellungen psychologischer Art aufgrund von Tonverwandtschaften und Klangvertretungen und berechnet für die jeweiligen Klangvertretungen die exakten Frequenzen mittels "mathematischer Funktionen" (!).

6. Zu der "Methode Riemann" gehört auch eine dezidierte Lehre der Metrik, Rhythmik und Phrasierung. Er verstand sie als Bestandteil seiner Hörtheorie(16).

3. Reibungspunkte zwischen Theorie und Praxis

Bei allem Respekt vor den Leistungen Riemanns muß zugegeben werden, daß einige seiner frühen Thesen strittig sind: Er versuchte beispielsweise, sämtliche rhythmischen Erscheinungen aus dem Prinzip des Auftaktes zu entwickeln. Auch vertrat er in harmonischer Hinsicht eine dualistische Auffassung.(17) Riemann relativierte bzw. revidierte allerdings in seinen letzten Lebensjahren manche seiner früheren Aussagen(18).

4. Die philosophische Fundierung der Riemann`schen Hörtheorie

Kommen wir zu seinem mehrfach erwähnten Aufsatz "Ideen zu einer 'Lehre von den Tonvorstellungen' zurück. Zum Verständnis seiner Hörtheorie ist die hier ausgeführte philosophische Ausgangsposition entscheidend, die sich von gängigen Auffassungen deutlich unterscheidet. Er betont, daß er in erkenntnis-theoretischer Hinsicht die deduktive Methode gewählt hat. Damit meint er folgendes: Grundlegend ist für ihn nicht die Reflexion über die Beschaffenheit der akustisch vermittelten Musik, sondern eine Reflexion über die Beschaffenheit des wahrnehmenden und verarbeitenden Geistes. Von hier aus, also "von oben nach unten" baut er seine Theorie auf. Er beruft sich dabei auf Drobisch (19), nach dessen Theorie es unumgänglich ist, daß jede Wahrnehmung sofort mit einem Urteil verbunden ist, mit einer Zuordnung zu über- oder untergeordneten Kategorien. Demzufolge ist auch Riemann der Auffassung, daß diese hörende Gehirntätigkeit kein passiver Vorgang ist, sondern daß der Geist aktiv das Wahrgenommene gestaltet und sogar umgestaltet. So sorgt z.B. die Ökonomie der Tonvorstellungen dafür, daß das musikalische Denken in gewissen Graden unabhängig von den akustischen Erscheinungen "funktioniert"(20). Im Zusammenhang mit Stimmungsfragen kommt er zu dem konsequenten Schluß: "Unser Hörorgan [ist] glücklicherweise so geartet, daß ihm die absolut reine Intonation gar nicht Bedürfnissache sind."(21)

Sein revolutionärer Ansatz besteht also darin, die akustischen Ereignisse gegenüber den Tätigkeiten des menschlichen Geistes für relativ unbedeutend zu halten. Die sich in der Ideenwelt ereignenden "Funktionen", das heißt die Gedankentöne(22) oder Gehirnschwingungen(23) - wie er sie nennt - , seien die alles prägende Wirklichkeit. Die erklingende Musik ist also nur noch das unvollkommene und "zurechtzuhörende" Abbild der vollkommenen Ideenwelt. Hierin denkt er wie kaum ein anderer Musiktheoretiker platonisch bzw. mittelalterlich(24). Der zentrale Satz für das Verständnis des Riemann'schen Denkens lautet: "Daß das Musikhören nicht nur ein passives Erleiden von Schallwirkungen im Hörorgan, sondern vielmehr eine hochgradig entwickelte Betätigung von logischen Funktionen des menschlichen Geistes ist, zieht sich als leitender Gedanke durch meine sämtlichen musiktheoretischen und musikästhetischen Arbeiten seit meiner Dissertation."(25) Aus diesem Kernsatz entwickelt er die Musikalische Logik d.h. die harmonisch-melodische und rhythmisch-metrische Grammatik bzw. Funktionstheorie.(26) Was er nun unter der logischen Funktionen des menschlichen Geistes versteht, macht er in seiner Dissertation deutlich: "...so würde ein längeres Musikstück einem Kettenbruche vergleichbar sein, [bei dem man] alle Partialbrüche aneinanderhängt, um den Werth des gemeinsamen Bruches ... wiederzugeben... so werden die aufeinanderfolgenden Klangvorstellungen ... vom bewussten oder unbewussten Geiste verglichen und das Facit ist das Verständnis des musikalischen Gedankens."(27) In diesen Formulierungen übernimmt übrigens fast wörtlich die bekannte Aussage von G. W. Leibniz:" musica est exercitium arithemeticae occultum nesciens se numerare animi" Frei übersetzt: Die Musik ist eine Er-zählung im Unbewußten der Seele. Oder ähnlich bei Johannes Scotus: "Hier darf man etwas Wunderbares, etwas nur durch geistiges Schauen kaum zu Erfassendes sehen, daß nämlich nicht die voneinander verschiedenen Töne... die Süße der Harmonie ausmachen, sondern die Verhältnisse... der Töne, die in ihrer gegenseitigen Beziehung nur des Geistes innerer Sinn wahrnimmt und unterscheidet."(28)

C) Konsequenzen

Was folgt nun aus diesen Betrachtungen?

Eine Nebeneinander der Unterrichtsfächer Solfège und Funktionstheorie ist wenig sinnvoll, da letztere eine logische und adäquate Fortsetzung der älteren an der Einstimmigkeit orientieren Unterrichtsmethode ist.

Eine Harmonielehre, die visuelle Aspekte betont, führt bei funktionstheoretischen Überlegungen leicht zu Fehlschlüssen wie den sog. " Funktionsfreien D7-Folgen"(29) oder der folgenden Fehlinterpretation: "Natürlich kann die Funktionsbezifferung derartige Aufgaben noch lösen, aber dem musikalischen Sinn, oder dem, was der Hörer hört, wird sie kaum noch gerecht."(30) Dieser Satz beweist, daß der Riemann'sche Grundgedanke nicht verstanden wurde, denn die Funktionstheorie will ja nichts anderes, als dem gerecht zu werden, was der Hörer hört.

So macht es auch keinen Sinn, zwischen "funktionaler Modulation"(31) und "chromatischer Modulation" etc. zu unterscheiden: Jede Art von Infragestellung der Tonika bis hin zur "Atonalität" löst eine bestimme Funktion im menschlichen Geiste aus.

Da die Funktionstheorie auf wahrnehmungspsychologischen Tatsachen beruht (Stichwort: "Analyse der Klänge durchs Ohr"(32), darf nicht vergessen werden, daß sich bei wiederholtem Hören eine Funktionsanalyse ändern kann. Hat man beispielsweise bei einer Modulation beim ersten Hören die Umdeutung erst sehr spät bemerkt, so wird beim wissenden Hören ein frühere funktionale Umdeutung stattfinden.

Wenn die Wahrnehmung von Musik in der Zeit stattfindet, kann eine komplexe Akkord- oder Tonfolge in schnellem Tempo atonal und in langsamem Tempo tonal wirken, denn eine harmonische Funktionsanalyse kann den Zeitfaktor nicht einfach ignorieren

Es wäre zu überlegen, ob in der Ausbildung in didaktischer Hinsicht nicht zwischen handwerklichen Aspekten (Harmonielehre im Sinne einer auf die Praxis orientierten Satz- und Improvisationslehre ohne funktionstheoretische Überlegungen) und einer Ausbildung des Musikalischen Hörens mit einem (funktions-)theoretischen und einem praktischen Teil (Gehörbildung/Hörerziehung) unterschieden werden müßte. Das schließt dann auch eine "Funktionstheorie der Neuen Musik" nicht aus.

ANHANG:

H. Riemann: Rhythmik  und Metrik
nach:  H. Riemann "System der musikalischen Rhythmik und Metrik, Leipzig 1903


A)  Unterteilung 1. Grades
		Beispiele S. 19f.	
			

B) Unterteilung 2. Grades

		I) binäre Unterteilungen

			a) achttönige Motive im geraden Takt in Achteln

				1) komplett (Beispiele S.41, a-c)

				2) inkomplett (Beispiele S.41/42, d-p)

				3) überkomplett (Beispiele S.41/42, d-p)


			b) sechstönige Motive im ungeraden Takt in Achteln

				1) komplett  (Beispiele S.44/45, a-e)

				2) inkomplett (Beispiele S.44/45, f-z)

				3) überkomplett (Beispiele S.44/45,f-z)


		II) ternäre Unterteilungen (Tripelunterteilungen)

			a) sechstönige Motive im geraden Takt in Achteln

				1) komplett (Beispiele S.52)
 
				2) inkomplett (Beispiele S.53)

				3) überkomplett (Beispiele S.53)



			b) neuntönige Motive im geraden Takt in Achteln
					
				ohne weitere Ausführungen S.55




C)  Unterteilung  3. Grades

				ohne weitere Ausführungen S.56





Fußnoten

1 Vortrag anläßlich der Fachtagung Hörerziehung in der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart am 30./31.01.1998

2 Jean-Philippe Rameau, Démonstration du principe de l'harmonie Paris 1750, S. 7, zitiert nach: Hans Pinscher, Die Harmonielehre Jean-Philippe Rameaus, Leipzig 1967, S. 81f. (Hervorhebung LF)

3 H. Riemann, Musikalische Syntaxis, Grundriß einer harmonischen Satzbildungslehre, Leipzig 1877, S. 23, 24, 120

4 H. Riemann, Katechismus des Musikdiktats, Leipzig 1889, 2. Auflage als Handbuch des Musikdiktats, ebd.1904

5 H. Riemann: Ideen zu einer "Lehre von den Tonvorstelungen" , in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters, XXI,1914 - XXII, 1915 XXIII,1916 (s.a. in: B.Dopheide, Musikhören, Darmstadt 1975, S.16)

6 H. Riemann, Musikalische Logik, Leipzig 1873, als Dissertation "Ueber das musikalische Hören", 1874

7 H. Riemann, Geschichte der Musiktheorie, Berlin 1898/1920, S. 529

8 H. Riemann, Lehre von den Tonvorstellungen a.a.O., S. 19

9 Helga de la Motte, Handbuch für Musikpsychologie, Laaber 1996, S. 97f.

10 Jean-Jacques Rousseau, confessiones, Buch VII (1764-70), zitiert nach: R. Cotte, Bemerkungen über das Verhältnis Jean-Jacques Rousseaus zur Musik, in: Beiträge zur Musikwissen schaft V 1963, s.a. Jean-Jacques Rousseau, Dissertation sur la musique moderne, Paris 1743, bzw. Project de nouveaux signes, Paris 1742 (Collectioncomplette des oevres de Jean-Jacques Rousseau, 1782

11 s. Tonic-Solfa, K. Mollowitz, Über die Musikerziehung bei A. Glover u. J. Curwen, Diss., Königsberg 1934

12 Als positive Ausnahme können die Werke von H. Nobis und P. Schenk gelten, die "do" auch auf den Grundton der Moll-Tonika beziehen.

13 Confessions a.a.O.

14 J. Bonnet/P. Guilhot, L. Instituteur et l'èlève musiciens Association Galiniste, Paris, 1890; La Méthode Galiniste, in: La Réforme musicale, 3. Serie, Nr. 2, Mai 1939 Hauptvertreter dieser Richtung: Aimè Paris (1778-1866), Pierre Galin (1786-1812), Emile Joseph Maurice Chevé (1804-1864),

15 sinngemäß nach Riemann, Lehre von den Tonvorstellungen a.a.O., S 44

16 Bei der Reflexion über dieses Thema stelle ist fest, daß die Ausführung dieses Bereichs i.B. auf das musikalische Hören sehr lohnend wäre. Es würde aber den hier vorgesehenen Umfang sprengen.

17 Er begründet sie u.a. damit, daß von Sängern die "Unterquinte oder Oberquarte... genau so leicht intoniert werden [kann] als die Oberquinte oder Unterquarte." (Mus. Logik, S. 24) Hierin wird jeder erfahrene Chorleiter widersprechen: Es läßt sich empirisch bei wenig erfahrenen Chorsängern nachweisen, daß ein Sprung von der Tonika in den Subdominantgrundton - insbesondere abwärts - wesentlich schwerer zu finden ist als der in den Dominantgrundton!

18 z.B. seine metrischen Grundprinzipien ( Neue Ideen zu einer "Lehre von den Tonvorstellungen" in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters, 1916, S. 15) oder sein Verhältnis von deduktivem zu induktivem Denken, s. Riemann, Lehre von den Tonvorstelungen a.a.O., S.14/15, s.a. Diss. S. 1; Auch räumt er ein, daß zentrale Aussagen eigentlich nur Hypothesen seien, denn "in welcher Weise sich Tonschwingungen letzten Endes in Tonvorstellungen umsetzen, wird wohl niemals aufgehellt werden." s. H. Riemann, Handbuch der Akustik (Musikwissenschaft), Berlin 19213, S. 93

19 H. Riemann, Musikalische Syntaxis, a.a.O. ,S. 1

20 z.B. funktioniert das "tonale Hören" nach Riemanns Auffassung in der Logik des menschlichen Geistes in reiner Stimmung.

21 Riemann, Lehre von den Tonvorstelungen a.a.O., S.36)

22 Musikalische Logik, S.25

23 Musikalische Logik, S.27

24 s.a. den mittelalterlichen "Universalienstreit" zwischen den Realisten und den Nominalisten. Riemann nennt den "Realisten" Johannes Scotus eins seiner großen Vorbilder.

25 Ideen zu einer "Lehre von den Tonvorstellungen"

26 Er betont, daß das Musikhören bei Laien ein vergleichendes Empfinden ist, welches bei Musikern Denken genannt werden kann. Dieses vollziehe sich ähnlich dem Denken in Begriffen im dialektischen Dreischritt These-Antithese-Synthese. (s. Syntax a.a.O.,S. 1)

27 Musikalische Logik, S.41, andererseits schreibt er auch: Es besteht die Gefahr, bei der Betrachtung des Wesens der Musik, "in Formalismus zu verfallen... und die Hauptsache zu übersehen, daß nämlich die Melodiebewegung zuerst und vor allem frei ausströmende Empfingung sein muß." (H.R, Grundlinien der Musikästhetik- Wie hören wir Musik, Berlin 1887/1919, S. 42)

28 J. Scotus, De divisione naturae, in: Migne, Patrologia latina Bd. 122 / 965f, zitiert nach: J. Handschin, Die Musikanschauung des Johannes Scotus, in: Deutsche Vierteljahresschrift f. Literaturwiss. u. Geistesgesch. V, 1927, S. 324

29 D. de la Motte, Harmonielehre, Kassel 1976, S. 176

30 dito, S. 155

31 W. Maler, Beitrag zur durmolltonalen Harmonielehre, Leipzig 1931, S. 59

32 Dissertation a.a.O. Cap.1

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