Die Analysen der Klaviersonaten Beethovens von Hugo Riemann im Vergleich zu neueren Analyseverfahren

Vortrag anläßlich der Fachtagung Tonsatz der Staatliche Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart am 22.01.99

Dieser Text ist ein Vortrags-Manuskript, welches nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Veröffentlichung hat.

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Das hiesige Referat ist aus meiner Düsseldorfer Seminararbeit "Modulationsmodelle in den Klaviersonaten Beethovens" hervorgegangen. Das Unterrichtsziel bestand darin, die oft etwas theoretisch behandelte Modulationslehre durch praxisorientierte harmonische Analysen im Rahmen des "Schwerpunktstudiums Tonsatz" zu vertiefen. Neben eigenen Analysen wurden einige in der Literatur erschienene Arbeiten zum Vergleich herangezogen. Hierbei traten die unterschiedlichen Ansätze der verschiedenen Autoren zutage: Häufig orientierten sich die Analysen primär an den hörpsychologischen Gegebenheiten, d.h. sie wurden von dem Gedanken geleitet, daß das musikalische Kunstwerk erst durch das Hören existent wird. Somit ließen sich diese Theoretiker von der auditiven Analyse leiten; andere zeigten ihre Beobachtungen primär am Schriftbild der Partitur auf, unabhängig davon, ob die Ergebnisse hörend nachvollziehbar sind. Es wäre dann von einer primär visuellen Analyse zu sprechen.

Bei der Durchsicht der Spezialliteratur stach das 1918-20 erschienene dreibändige Werk "L. van Beethovens sämtliche Klaviersonaten - ästhetische und formal-technische Analyse mit historischen Notizen" des 1920 verstorbenen Musiktheoretikers Hugo Riemann besonders hervor.[1]

(Folie 1) Zur Einstimmung möchte ich Ihnen nun einen Ausschnitt aus dem 2. Satz der Waldsteinsonate, op. 53 , gespielt von Vladimr Horowitz und die dazugehörige Analyse Riemanns [2] vorstellen.

Schon beim ersten Eindruck dieser enormen Fleißarbeit fällt die in ihrer Differenzierung und ihrem Umfang kaum zu überbietende Untersuchung in Auge. Sie muß als angewandtes Kompendium Riemanns komplexer Musiktheorie verstanden werden. Daß er hierbei - wie auch in seinen sonstigen musiktheoretischen Schriften - primär das vom Hörer wahrgenommene Klangbild als Ausgangspunkt wählt, ist nicht nur von ihm selbst vielfach bezeugt, sondern wird auch durch die Art und Weise seines Vorgehens immer wieder glaubhaft.

Sämtliche Takte - man könnte mit einigem Recht sogar sagen - sämtliche Töne aller Beethoven'schen Klaviersonaten sind hinsichtlich der bei Riemann gleichberechtigt behandelten Parameter Harmonik und Metrik genauestens kategorisiert. Diese Gleichbehandlung von Tonhöhen- und Zeitparametern findet sich in den Beethovenanalysen der Nachkriegsliteratur eher selten. Lediglich Dinslage betont, daß "... der metrische Parameter als musikalische Gegenständlichkeit - gleichberechtigt neben der Harmonik, Motivik und Rhythmik - begriffen und dargestellt" wird.[3] Das veranlaßte mich, auch bei dem heutigen Referat, bei dem das Riemann'sche Werk im Mittelpunkt stehen soll, diesen metrischen Aspekt mitzuerörten.

Riemann bedient sich im wesentlichen der von ihm zu einem großen Lehrgebäude ausgebauten harmonischen Funktionstheorie und der ihm eigenen Lehre von Rhythmik und Metrik. Er hebt sich in seinen Sonatenanalysen von späteren Autoren besonders durch seine spezielle Darstellungsform ab. Zwar bringt er auch die ausführlichen Textdarlegungen, in denen er auf die Entstehungsgeschichte eingeht und seine Analysen erläutert, aber er läßt dann eine Skizze der vollständigen Komposition folgen, die auf das wesentliche melodische Geschehen reduziert ist. Dieser ist eine Kurzschrift für den harmonischen Ablauf beigegeben. Für die vorwiegend homophon konzipierte Musik scheint diese von sämtlichen Figurationen befreite Reduzierungsmethode äußerst vorteilhaft, wobei allerdings kontrapunktisch komplexer angelegte Partien vereinfacht wiedergegeben werden. Es sei nur am Rande erwähnt, daß diese Darstellungsform den heute im Jazz üblichen sogenannten lead-sheets ähnelt. Riemann fügt schließlich noch die von ihm so bezeichneten "Rangzahlen" der Phrasierung in runden Klammern unter den Taktstrichen und seine Phrasierungsbögen hinzu. Mit römischen Ziffern numeriert er die jeweils von ihm analysierten Perioden. (Folie 2) In seinem beigegebenen Text, der auch eine sich auf die Perioden beziehende Formübersicht enthält, bezieht er sich dann auf diese am musikalischen Sinn orientierte Zählung und nicht auf die heute übliche mechanische Taktzählung. Bei dem hiesigen Beispiel handelt es sich um die Formanalyse der Sonate in D-Dur, op.10,Nr.3, 1. Satz [4]. Ohne auf diese Analyse im einzelnen einzugehen, sehen Sie das prinzipielle Vorgehen: die Perioden I-XXII sind jeweils noch einmal hinsichtlich ihrer speziellen Bauform aufgeschlüßelt - dazu später.

Die Methoden Riemanns sind seit der grundlegenden Kritik, die von Franz Kullak(1898)[5] bis Carl Dahlhaus(1974)[6] reichen, äußerst umstritten, z.T. so sehr angefeindet, daß sein Standardanalysewerk in populären Beethoven-Biographien wie z.B. der rororo- Biographie von Fritz Zöbeley völlig ignoriert wird. Das scheint auf der einen Seite verständlich, denn es bedarf wirklich einiger Anstrengung, um die spezielle Sichtweise Riemanns nachzuvollziehen. Auf der anderen Seite wird man aber durch das Studium der Riemann'schen Analysen - sofern man bereit ist, einige kritische Aspekte seiner musikalischen Logik beiseite zu lassen - viele musiktheoretische Erkenntnisse über den kompositorischen Ansatz Beethovens gewinnen können. Neben der berechtigen Kritik, leidet die Riemannrezeption vielfach darunter, daß er häufig in seinen dogmatisch scheinenden Intensionen falsch verstanden wird. Er klärt dieses Mißverständnis aber z.B. in bezug auf seine Phrasierungslehre: "Unmöglich kann es das Ziel meiner Darstellung sein, überall zweifelsfreie Entscheidungen über die rechte Art der Phrasierung zu erudien ... Ich bezwecke aber vielmehr nur, das rhythmische Auffassungsvermögen derart fortzuentwickeln, daß ... [dem Interpreten] eine bestimmte Phrasierung Bedürfnissache wird..." [7]

Neuere Analysen der Beethovensonaten finden sich verstreut in Harmonielehren, Spezialuntersuchungen oder allgemeinen Analysewerken. In vielen Veröffentlichungen liegt dabei die Gewichtung auf den philologisch-musikgeschichtlichen Querverbindungen oder der Erörterung von thematisch-motivisch oder formalen Zusammenhängen, seltener auf zufriedenstellenden harmonischen und metrischen Analysen. In einigen Werken, wie z.B. der umfangreichen Arbeit von Jürgen Uhde ist sogar explizit auf die detaillierte Erörterung harmonischer Vorgänge verzichtet worden, "weil sonst auf für manche Leser schwer nachvollziehbare Funktionsformeln nicht hätte verzichtet werden können"[8]. Es gibt aber auch eine Reihe von Musiktheoretikern, die sich zwar vor einer komplexeren Terminologie nicht scheuen, aber die von Riemann durchgeführte vollständige Detailanalyse aus anderen Gründen ablehnen. So urteilt Diether de la Motte sehr grundsätzlich: "Im Bienenfleiß kompletter harmonischer Analysen steckt meistens Denkfaulheit."[9] oder an anderer Stelle: "Komplette Funktionsbezeichnung für ein ganzes Stück ist Stumpfsinn..."[10]

Meiner Meinung nach wird man mit einem solch vernichtenden Pauschalurteil den differenzierten Analysemethoden Riemanns nicht gerecht. Er geht in seinem 1380 Seiten umfassenden Werk sehr wohl auf vielfältige und interessante Zusammenhänge ein, die natürlich im Rahmen des hiesigen Kurzreferates nur angedeutet werden können.

Zunächst bitte ich um Verständnis, daß wir - bevor wir auf die Analysen Riemanns im einzelnen eingehen - ein wenig ausholen müssen, um den fundamentalen Unterschied des Riemann'schen Ansatzes zu vielen heute üblichen Verfahren zu erkennen.

Wie schon erwähnt, spricht Riemann innerhalb der Analyse immer wieder über die Bedeutung des Hörens, häufiger, als dies bei anderen Autoren anzutreffen ist. Grundlegend ist, daß er zunächst (!) eine ausgeprägte Hörtheorie für das Hören von Klängen und Phrasen entwickelte und auf der Basis dieser Theorie seine Analysen durchführt. "Alles wird natürlich darauf ankommen,... zu ergründen versuchen, welche Kategorien die lebendig arbeitende Tonphantasie leiten und bestimmen, ihr Gesetze geben."[11] Im Vollbesitz seines Lehrgebäudes scheint er nun in den kompositorischen Details der Beethoven-Sonaten gewissermaßen die Bestätigung seiner a priori gesetzten Lehrsätze zu sehen.

Heute wird im allgemeinen - insbesondere in den wissenschaftlichen Disziplinen - der umgekehrte induktive Erkenntnisprozeß angewandt: aus der Fülle der Details wird ein hypothetisch formuliertes Theoriegebäude entwickelt. So benutzt beispielsweise Diether de la Motte in seinem Kontrapunktlehrbuch (S.33f) - allerdings noch sehr behutsam - statistischen Methoden, um zu Gesetzmäßigkeiten zu gelangen. Dies läge Riemann völlig fern: für ihn gilt die von ihm gefundene Idealgestalt als ewige (!) unumstößliche Wahrheit. Falls die kompositorische Realität damit nicht übereinstimmt, wird sie nötigenfalls so lange umformuliert, bis sie konform ist. Das mag uns heute sehr befremden, da das Urtextideal als allgemein akzeptiert gelten kann. Riemann begründet die von ihm selbstbewußt geänderten Schreibweisen damit, daß "die Komponisten die Taktstriche verkehrt setzten"[12] und deshalb Verbesserungen nötig seien. (Folie 3a) Ein Beispiel ist seine Analyse des Andante der Kuckuckssonate op. 79, in welchem er auf überzeugende Weise zeigt, daß es sich um einen sog. "Pseudo-Neunachteltakt" handelt[13]. Sie sehen in der ersten Zeile die von Riemann als Urform bezeichnete Gestalt des Thema im 6/8- Takt, bei der er sich im zweiten Takt ein eingeschobene Viertel vorstellt. Auch bei der Analyse der Sonate in Es-Dur, op. 27,I (Folie 3b) schreibt er: "In solchen Fällen ist das allein Richtige, den orthographischen Fehler zu verbessern, d.h. die Taktstriche um einen halben Takt zu verschieben" [14]

Sicher liegt dieses Verfahren völlig jenseits der heute populären Denkschemata, dennoch: Es begeistert die Konsequenz, mit der eine These oder besser Hypothese der Realität ausgesetzt wird. Diese deduktive, scheinbar dogmatische Methode Riemanns schreckt auf der einen Seite wegen ihrer Rigorosität ab, auf der anderen Seite fasziniert sie durch ihre Trotzköpfigkeit und Beharrlichkeit.

Woraus bestand nun die Idealgestalt der Riemann'schen Logik?

Ich möchte zunächst einmal die dualistische Methode Riemanns in Erinnerung bringen. Ausgehend von der These, daß sich sowohl der Dur- als auch der Molldreiklang direkt aus der Obertonstruktur ableiten läßt, letzterer gewissermaßen als "Obertonreihe nach unten", basierte die gesamte Harmonielehre Riemanns zunächst auf diesem sich schon im Gegensatzpaar Dominante und Subdominante abzeichnenden Grundgedanken. Riemann relativierte zwar unter dem Einfluß des Tonpsychologen Stumpf seine früheren Auffassungen, zog allerdings daraus nicht die Konsequenz, seine Harmonielehre grundsätzlich zu ändern. Schwierig wird seine Theorie vor allem deshalb, weil er konsequenterweise bei Molldreiklängen die heute als Quintton bezeichnete V. Stufe als Hauptton und Ausgangspunkt seiner Terminologie wählt.

Zur Rhythmus- und Phrasierungslehre Riemanns.

Riemann vertritt die Auffassung[15], daß sich die gesamte Rhythmik auf die Urzelle des Auftaktes und die gesamte Phrasierung auf die Urzelle der vollen achttaktigen Periode als normativem Grundschema[16] zurückführen läßt. Alle anderen Rhythmus- oder Phrasenbildungen leitet er von diesen ab[17]. Zu seinen normativen Grundschemata Auftaktigkeit und Achttaktigkeit ist anzumerken: Die Widersprüchlichkeit, die durch eine einseitig auftaktige Sichtweise entsteht, ist heute sicher nicht mehr zu halten und bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Ausführung. Zweifelsfrei lebt aber die Wiener Klassik von dem Urmodell der achttaktigen Periode, die sich in Einzelfällen auch auf eine Viertaktigkeit reduzieren kann. Auch der Kompositionsunterricht im 18. Jahrhundert "wurde weitgehend anhand des Menuetts gelehrt"[18], welches bekanntlich auf dieser Vier- bzw. Achttaktigkeit basiert. Ebenso unstrittig ist es, daß dieses Grundmodell, insbesondere bei Beethoven, durch vielerlei Modifikationen belebt wird. Riemann systematisiert nun die verschiedenen Periodenbildungen und führt hierfür eine besondere Schreibweise ein. Er sieht in den Störungen des symmetrischen Aufbaus[19] vor allem die Enttäuschung von Hörerwartungen. Am häufigsten sind die folgenden sieben Möglichkeiten:

1. (Folie 4a).durch

die Verwandlung eines schweren Taktes in einen leichten. Z.B. (4=5) oder (8=1), Beispiel Sonate C-dur op.2,3, 1. Satz[20]

Ich ergänze diese Periode zur Achttaktigkeit indem ich die "fehlenden" Takte 5 und 8 der Periode ergänze.

Sofern mehrere Takte entfallen, spricht Riemann

2. von der Elidierung von Takten z.B. (4=6) Beispiel: Kuckuckssonate G-Dur, op.79, 1.Satz [21] (Folie 4b)

Die Störungen können weiter erfolgen durch

3. die Dehnung eines melodischen Geschehens durch Hinzufügung eines schweren Taktes. (8) (9) Beispiel: Sonate f-moll, op. 7, 1. Satz [22] (Folie 5a)

In dieser Periode ist auch

4. noch die häufig zu beobachtende Verlängerung durch Wiederholung bzw. variierte Wiederholung (8a) (8b) (8c) zu erwähnen. Beispiel (s.o.): (Folie 5a)

Ein von anderen Autoren übernommener Begriff Riemanns ist dann

5. der Ausdruck "Vorhang", der eine oder mehrere einleitende Phrasen vor Beginn einer Periode bezeichnet. Beispiel: Sonate A-Dur op. 101, 2. Satz Vivace alla Marcia[23]. Hier haben die einleitenden zwei Takte die Funktion eines Vorhangs. (Folie 5b)

Des weiteren

6. die sogenannte "Takt-Triole", d.h. die Ersetzung einer Zweitaktigkeit durch eine Dreitaktigkeit. Beispiel: Sonate in f-moll, op. 2, Nr.1 Menuetto[24], die im übrigen hier auch als sogenannter "Generalauftakt" zur letzten Periode des Trios fungiert. (Folie 5c)

schließlich muß noch erwähnt werden

7. die Aufeinanderfolge zweier leichter Takte (7) (7) (8). Beispiel: Waldsteinsonate, op. 53, Adagio molto [25] (Folie 6)

Ich möchte nun an weiteren konkreten Fällen [26] einzelne Aspekte der Arbeiten Riemanns mit den Analysen von Arnold Schönberg, Patrik Dinslage, Diether de la Motte, Wilhelm Maler und Heinrich Schenker vergleichen.

Sonate in Es-Dur, op.7, I. Satz, Takt 25-41[27] (Folie 7) Riemann deutet diese Stelle als Modulation in zwei Schritten. Zu Beginn der zweiten Periode (Takt 25) T7=D in As-Dur und zwei Takte später, als D7 mit alterierter Prim[28], die zum Nonenakkord bzw. Dv von B-Moll wird Schönberg liefert in seiner Schrift "Die formbildenden Tendenzen der Harmonie etliche harmonische Analysen, die er unter dem Aspekt der von ihm hier eingeführten tonalen Regionen betrachtet. Er sieht den Bezug an dieser Stelle ähnlich wie Riemann, wobei er in Takt 25-27 allerdings keine Umdeutungsstelle, sondern eine Überlagerung der zwei Regionen Tonika und Subdominante feststellt.

Im IV. Satz dieser Sonate, Takt 152-155[29], (Folie 8) tritt dann der Gegensatz zwischen der Analysemethode Schönbergs und Riemanns deutlich zutage. Riemann bemüht sich, auch die kleinsten Details unter dem Aspekt des hörenden Nachvollziehens plausibel zu analysieren. Obwohl ihm das Verständnis des Tones b des Fermatenraktes offensichtlich einige Schwierigkeiten bereitet, versucht er, eine Lösung anzubieten: er deutet ihn als enharmonischer Verwechslung der dominantischen Prim in Es-Dur zur doppeldominatischen Terz in E-Dur. Eine Randbemerkung: Riemann ändert auch hier die Tonartbezeichnung gegenüber Original: Nach erfolgter Modulation nach E-Dur zeichnet er 4#!

Schönberg geht nicht auf diesen Übergang ein, sondern deutet den folgenden Ton h sofort als die V.Stufe des Neapolitaners von Es-Dur und deutet auch die sieben folgenden Takte als neapolitanische Region. Gleichzeitig läßt er in Takt 157 die Region der tiefalterierten II. Stufe von Es-Dur gelten, die nach heutigem Verständnis mit dem Neapolitaner identisch ist. Der uns vertraute typische Höreindruck eines Neapolitanischen Sextakkordes kann hier aber kaum entstehen, vor allem, weil der Akkord E-Dur nur kurz aufleuchtet. Deshalb scheint Schönbergs Deutung nicht von auditiven sondern von visuellen Voraussetzungen auszugehen. Mein Vorschlag für diese Stelle: Hören wir nach dem Fermatentakt nicht schlicht eine Rückung von Es nach E? Sonate in C-Dur op.2,3, I. Satz, Takt 97-109. [30](Folie 9) Riemann hört hier eine Modulation in drei Schritten, zunächst von Es-Dur nach f-Moll, dann nach h-Moll und schließlich nach D-Dur. Den zweiten Akkord deutet Riemann als alterierte Prim. Offensichtlich meint er eine Hochalteration (Druckfehler?!). Bemerkenswert ist der Takt 103 (Cis7-Akkord). In seinem harmonischen Extrakt fügt Riemann dem Akkord ein im Originaltext nicht vorhandenes "d" hinzu und deutet die Stelle als Modulation mittels eines enharmonisch verwechselten Dv.[31] Der kadenzierende 4/6-Akk. wird bei innerhalb des Modulationsvorgangs zum sog. Leittonwechselklangs, den wir heute als Tg bezeichnen, der dann folgenden Tonika D-dur. In Schönbergs Analyse wird zunächst einmal der dominantische Klang in Takt 97 auf die Ausgangstonart des Sonatensatzes C-Dur bezogen. Für Schönberg ist er die V.Stufe der Region "Dur auf der erniedrigten Mediante", die er mit bM bezeichnet. Der Bezug zu dieser Region hält für ihn sechs Takte als alterierte III. bzw. als II. Stufe vor. Schönberg betont, daß die von ihm als "wandernde Harmonie" bezeichneten Klänge auf Vieldeutigkeit beruhen. Insbesondere der in Takt 103 erscheinende Akkord wird gedeutet als

1. smsm[32], d.h. als V. Stufe der Region "Mollsubmediante der Submediante" (gewissermaßen als die D der hochalterierten VI.Stufe der Tp von C-Dur).

2. als alterierte VI. Stufe der Mollsubdominante

3. als I. Stufe des Neapolitaners von C-dur Vor allem diese Deutungsvielfalt zeigt das unterschiedliche Verständnis von Analyse bei Riemann und Schönberg: Bei Riemann geht es vornehmlich um auditive Analyse, bei der ein Neapolitaner nach erfolgter Modulation nicht mehr auf einen Klang bezogen werden kann, der dem Gedächtnis des Hörers bereits längst entschwunden ist. Schönberg hingegen scheint - das zeigt auch diese Stelle - die visuelle Analyse zu bevorzugen, denn bei Betrachtung des Notenbildes, ist seine "Sichtweise" durchaus nachzuvollziehen. In hörpsychologischer Hinsicht befriedigt sie allerdings überhaupt nicht.[33]

Auch Dinslage[34] widmet sich in seiner Untersuchung Studien zum Verhältnis von Harmonik, Metrik und Form in den Klaviersonaten Ludwig van Beethovens, dieser Sonate(Folie 10). Er stellt nach meiner Einschätzung sehr gewagte Querverbindungen her. So sieht er, sobald in den ersten 38 Takten eine chromatische Linie erscheint, Zusammenhänge, die beim Hören kaum wahrgenommen werden können. Aus einer chromatischen Viertonfolge einer unbedeutenden Skala in Takt 8, die Überleitungscharakter hat, wird bei ihm eine Krebsgestalt in Takt20 und in ihnen sieht er auch die Kerntöne d,cis,c und h des Seitenthemas in Takt 27f.[35]

Diether de la Mottes Analysemethoden bilden in mancher Hinsicht einen Kontrast zu Riemann. In seiner Analyse der Klaviersonate in D-Dur, op.10, Nr.3, zweiter Satz Largo e mesto[36] (Folie 11) verzichtet er nahezu völlig auf Notenbeispiele, da er davon ausgeht, daß der Leser oder Hörer den Notentext vor Augen hat. Gewisse Details, wie z.B. ein bemerkenswerter ein quasi vermollter Neapolitaner in Takt 67, auf den Riemann[37] hinweist oder Modulationsvorgänge scheinen de la Motte im einzelnen nicht zu interessieren. Sein erstes Ziel ist es, großflächige Zusammenhänge und Querverbindungen aufzuzeigen. In dieser Beziehung ist seine Analyse sehr genau und er weist die von Beethoven angewandten Mittel zur kompositorischen Steigerung, z.B. die Beschleunigung des harmonischen Rhythmus an dieser Stelle sehr detailliert nach: Takt 65-67 ganztaktig, Takt 68 halbtaktig, dann in der zweiten Takthälfte von Takt 69 harmonische Folge in Vierteln bzw. in Achteln. Ein akkordisch komplexes Geschehen, wie z.B. in Takt 67-71, das Riemann mit Hilfe seines Systems genauestens analysiert, bezeichnet de la Motte als "chaotische Akkordfolge, [das] einem nicht voraushörbaren Ziel"[38] zustrebt. Obwohl er - ähnlich wie Riemann - feststellt, daß Taktschwerpunkte nicht immer auf der "eins" empfunden werden und daß man das fis des Dv in Takt 68 wohl als ges hört, geht er aber nicht so weit, Beethoven eine "inkorrekte Schreibweise" vorzuwerfen oder sogar Änderungen vorzuschlagen. Vieles an seiner Ausdrucksweise ist behutsamer und vorsichtiger. Das entscheidende Ergebnis seiner Analyse besteht schließlich darin, gewissen analytischen Dilemmata nicht durch Gleichmacherei auszuweichen, sondern sich zu solchen Mehrdeutigkeiten zu bekennen. So schreibt er: "Ich fühle mich also in Wahrheit verpflichtet, meine Ratlosigkeit in diesem Punkte zu bekennen..."[39]. Auch bei der Formanalyse kommt er schließlich zu zwei Ergebnissen, die er gleichberechtigt nebeneinander stehen läßt: Es kann sich bei dem Satz sowohl um eine dreiteilige Liedform als auch um eine zweiteilige Form handeln. "Beide Auffassungen sind sinnvoll; es wäre sinnlos, sich für eine entscheiden zu wollen, würden dabei die sinnvollen Funde der anderen Auffassung über Bord geworfen."[40] Eigenartigerweise verschweigt de la Motte, daß auch Riemanns Formanalyse äußerst sinnvoll ist, daß es sich nämlich hierbei um "eine der Sonaten[hauptsatz]form nahestehende Liedform, mit einem Trioteil statt einer Durchführung handelt."[41] Immerhin läßt sich nämlich in Takt 17, bzw 56 ein 2. Thema ausmachen, daß den tonalen Gesetzen dieser Form gehorcht. De la Mottes Analyse folgen dann noch kritische Anmerkungen von Carl Dahlhaus. Trotz aller Unterschiede zu Riemann ist es übrigens bemerkenswert, wie stark de la Motte in seinen Arbeiten wieder die Argumente des hörenden Nachvollziehens gelten läßt. Sonate in e- Moll op.90, I. Satz, Takt 89[42] (Folie 12) Für Riemann ist der a-Moll-Akkord im 4.Takt der VI. Periode (Takt 97) die s in e-Moll, die er umdeutet als Leittonwechselklang der Subdominante (Sg) in C-Dur. Den nachfolgenden Dv deutet er - zunächst der Orthographie folgend - in Bezug auf C-Dur um, deutet dann die dominantische Terz enharmonisch zur dominantischen kleinen None in der neuen Tonart Es-Dur. Dieser Bezug auf dieses nicht erscheinende C-Dur ist meiner Meinung nach gewagt. Maler schlägt eine überzeugendere Analyse dieser Stelle vor: Er versteht den Akkord des Taktes 97/98 sofort als Molltonika und hört einen Takt später den dazu passenden Dv.

In der gleichen Sonate, im II. Satz Rondo, Takt 200-221[43] (Folie 13) hört Riemann Modulationen in fünf Schritten, zunächst T7=D7 in a-Moll, dann Dv=Dv in C-Dur, später, T1<=D7 in d-Moll und t=D6 in b-Moll und schließlich t=D6 in Fis-Dur. Maler analysiert lediglich etliche Ausweichungen und zwei Modulationen. Hier zeigt sich das für Riemann typische Tonalitätsempfinden, innerhalb eines harmonischen Ablaufs relativ häufig Tonartwechsel zu hören, wo andere Funktionstheoretiker die alte Tonart noch lange beibehalten.

Heinrich Schenker bestreitet bei seinen Analysen der Klaviersonaten Beethovens den ihm eigenen Weg. Zunächst verknüpft er die Analysen mit einem kritischen Bericht zur Urtextausgabe. Bei den Analysen aber geht seine ganze Bemühung dahin, in den Werken die von ihm als Urlinien bezeichneten Grundkategorien wiederzuerkennen. Seine satztechnische Sichtweise ist in sofern eine gute Ergänzung zu den Arbeiten Riemanns, als daß die melodischen Energien deutlicher ins Blickfeld gerückt werden. Andererseits sind seine Aussagen zur Harmonik äußerst schwach, zumal er sich der Stufenbezeichnung bedient, die komplexere harmonische Abläufe nur unzureichend beschreiben kann. Das wird besonderes deutlich in seiner Analyse des ersten Satzes der Sonate in A-Dur, op. 101 in Takt 85,86[44] (Folie 14). Beethoven arbeitet hier mit harmonisch unerwarteten Effekten. Schenker läßt in seiner sonst sehr ausführlichen Analyse diese kompositorisch beachtlichen Erscheinungen völlig unerwähnt.

Ich möchte zusammenfassen:

1. So umstritten und komplex die musiktheoretische Position Riemanns auch sein mag, sie sollte für die Musiktheorie auch heute noch als eine Herausforderung verstanden werden, den Versuch zu unternehmen, sich Rechenschaft über sämtliche Details der Phrasierung und Harmonik - insbesondere der Werke der Wiener Klassik abzulegen - , um auf dieser Grundlage die kompositorischen Zusammenhänge aufzuzeigen.

2. Die Unterscheidung zwischen auditivem und visuellem Tonsatzdenken sollte bewußter werden. Also: Ist es realistisch, das Analysierte hörend ohne Notenvorlage nachzuvollziehen oder hat das Hören überhaupt keine Bedeutung für die Analyse?

3. Bei einer analytischen Mehrdeutigkeit wie z.B. bei Modulationsvorgängen gilt es, sich der Tatsache bewußt zu sein, daß durchaus mehrere divergierende Auffassungen möglich sein können.

4. Dogmatisch scheinende Positionen sollten nicht in jedem Falle als indiskutabel verworfen werden, sondern als ernsthafte Aufforderung verstanden werden, eigene Positionen zu definieren.

5. Heute finden sich wissenschaftliche Ausführungen über Phrasierung und vollständige harmonische Analysen selten. Hat man mit einer völligen Abkehr von den Riemann'schen Arbeitsweisen da nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet?

Am Schluß mag ein Zitat von Jürgen Uhde stehen, denn er drückt die von mir dargestellte Gleichzeitigkeit von Licht und Schatten in Riemanns Arbeiten in seinem zu Beginn genannten Standardwerk besonders treffend aus. Auf der einen Seite nennt er Riemann einen der wenigen auch heute noch ernst zu nehmenden Kommentatoren des 19. Jahrhunderts, "wenn auch seine bis zur Absurdität durchgehaltene Phrasierungsdogmatik heute seltsam genug berührt". Schließlich meint er: "Riemanns Bögen haben ... oft etwas Richtiges, weit in die Zukunft weisendes, nur die Zeichen dafür, eben diese Bögen, sind höchst problematisch... Eine Übersetzung von Riemanns Arbeiten in moderne Terminologie und Symbole würde erstaunliche Anregungen geben können"[45].

Literatur (s.a. bei Uhde):

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Fussnoten:

1 hier verwendete Signatur für dieses Werk: H.R.B. zurück

2 H.R.B. III, 32

3 Dinslage, Patrick, Studien zum Verhältnis von Harmonik, Metrik und Form in den Klaviersonaten Ludwig van Beethovens, Berlin 1987, S.7

4 HRB I, 339

5 s. Riemann, Musiklexikon Sachteil S. 731

6 Carl Dahlhaus, Zur Kritik des Riemannschen Systems, in: Ernst Apfel und Carl Dahlhaus, Studien zur Theorie und Geschichte der musikalischen Rhythmik und Metrik, München 1974

7 H. Riemann, Mus. Dynamik und Agogik. Lehrbuch der musikalischen Phrasirung... Lpz, St. Petersburg 1884

8 J. Uhde, Beethovens Klaviermusik Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 16

9 D. de la Motte, Musikalische Analyse Kassel u.a. 1968 zurück

10 D. de la Motte, Harmonielehre Kassel 1976/1992 S. 158

11 H. Riemann, Lehre von den Tonvorstellungen a.a.O., S. 19

12 a.a.O. S. 108

13 H.R: Beethoven III, S. 179

14 H.R.B., II, S. 202

15 gegenteilige Auffassungen vertreten Moritz von Hauptmann, Die Natur der Hramonik und metrik Leipzig 1873 und Theodor Wiehmayer, Musikalische Rhythmik und metrik, Magdeburg 1917

16 Hugo Riemann, System der musikalischen Rhythmik und Metrik Neudruck der Ausgabe Leipzig 1903, Niederwallruf 1971, S. 196

17 Er begründet seine These wieder hörpsychologisch: "Da das Musikhören immer ein fortgesetztes Vergleichen ist, ein Aufsuchen der Symmetrie im Nacheinander, so erhält immer ein Zweites, das als Nachbildung, als korrespondierendes Äquivalent, als Antwort eines Ersten erscheint, erhöhte Bedeutung, erscheint gewichtiger, schwerer, als einen Abschluß bildend, weil die Symmetrie abschließend..." (allg. Musiklehre S.91 Berlin 1922). Bei seinen Ausführungen über die Phrasierung legt er Wert darauf, zur Erkenntnis "sinnvoller musikalischer Gebilde" zu gelangen.

18 Riemann Musiklexikon Sachteil, S. 562, s.a. Notenbuch für W.A. Mozart 1762 und Mozarts Brief an den Vater vom 14.5.1762)

19 H. Riemann, Allgemeine Musiklehre S. 111, Berlin 1922

20 H.R. B. I, S. 171zurück

21 H.R.B. III, 173

22 H.R.B., I, S. 94

23 H.R.B. III, S. 267

24 H.R.B. I, S. 107

25 H.R.B. III, 32

26 Modulationsmodelle in den Klaviersonaten Beethovens, (Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf, Doz.: L. Felbick) Abkürzungen: KMB= Könemann Music Budapest HRB=Riemann AS= Schönberg "Die formbildenden Tendenzen der Harmonie, (Deutsch Mainz 1957)

27 KMBI,74; Folie: AS,140 HRB I, 237

28 offensichtlich ein Druckfehler: die Prim der Dominante ist hochalteriert1<, nicht 1>.

29 KMBI,S. 98, AS, S. 71, HRB, I, 272,XV(2)

30 KMB I, 50; AS: S. 161= HR I,183, 184 (jeweils harmonische Extrakte)zurück

31 Abweichend dazu analysiert er aber dann eine Seite später den gleichen Akkord in der vollständigen Analyse der Durchführung als die enharmonische Umdeutung des Septakkordes des Leittonwechselklangs der Molltonika f-Moll (=Tg7) zur D7 (Druckfehler DD7 ist offensichtlich falsch!) der Tonika F#m.

32 offensichtlich handelt es auch hier um einen Druckfehler, denn entweder müßte Schönberg den F#m-Akkord als SMsm schreiben, wie schon von ihm auf Seite 20 exemplarisch ausgeführt oder er müßte ihn als #smsm deuten, also als Submediante der erhöhten Submediante, s.S. 29

33 Ich möchte übrigens diesen Analysen Schönbergs und Riemanns meine eigene hinzufügen, die allerdings ein Nähe zu Riemanns erster Deutung hat: Ich höre den Akkord in Takt 103 bezogen auf f-Moll als DDv mit tiefalterierter Quint, der dann dominantisch zu F#m wird.

34 Dinslage, Patrick, Studien zum Verhältnis von Harmonik, Metrik und Form in den Klaviersonaten Ludwig van Beethovens, Berlin 1987

35 Dinslage,a.a.O. S. 74

36 D. de la Motte, Musikalische Analyse, Kassel 1968, S. 49-59

37 H.R.B. Bd 1, S.358

38 a.a.O., S. 55

39 a.a.O., S. 51

40 a.a.O., S.57zurück

41 H.R.B. Bd. I, S. 360

42 KMBIII,79; Maler II, S. 115 , HRB III,234 VI,(4) eine Folie

43 KMB III, 91; MalerII, S. 115/116, HRB III,246 ab 3.Zeile

44 Ausgabe Schenker S. 497

45 J.Uhde a.a.O. Bd. II, S. 104f.

46 Dinslage, Patrick, Studien zum Verhältnis von Harmonik, Metrik und Form in den Klaviersonaten Ludwig van Beethovens, Berlin 1987 Updated: 30.01.1999

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