Populäre frühbarocke und zeitgenössische Improvisationsmodelle im Unterricht

Vortrag für die 4. Fachtagung "Musiktheorie im Gespräch" Hören - Wahrnehmen - Verstehen - Analysieren - Anwenden

Weimar Hochschule für Musik Franz Liszt 16.-18.4.99

Dieser Text ist ein Vortrags-Manuskript, welches nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Veröffentlichung hat.

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Inhalt:

A) Vorbemerkungen

B) Grundlagen der Improvisation

C) Historische Musikstile

D) Zeitgenössische afro-amerikanische Musikstile

E) Schlußbemerkungen

F) Anhang

A) Vorbemerkungen

Ein häufig beklagtes Übel unseres Musiklebens besteht darin, daß wir in den Musik-(Hoch)schulen zwar virtuose Interpreten ausbilden, daß jedoch das musikalische Bewußtsein oft weit hinter den technischen Fähigkeiten zurückbleibt. Diesen uns allen bekannte Mißstand verdeutliche ich immer gerne mit folgender Realsatire:

Einer meiner Hochschullehrer war damals ein junger Amerikaner - er ist seit langem hier nicht mehr tätig - , der mit sämtlichen akademischen Titeln gesegnet war: künstlerische Reifeprüfung, Konzertexamen Klavier und Liedbegleitung (sic!), größte Auszeichnungen in den USA etc. Als er merkte, daß ich eine starke Neigung zur Improvisation hatte, vertraute er sich mir an und berichtete, er habe immer größte Angst, zu Geburtstagen eingeladen zu werden. Etwas ungläubig fragte ich nach: "Wie bitte? Zu Geburtstagen eingeladen zu werden, Angst?" "Nun, irgendwann zu vorgerückter Stunde, Mitternacht, Höhepunkt des Festes, die Sektgläser werden erhoben, man stößt auf das Wohl des Geburtstagskindes an; dann stimmt jemand mit Sicherheit das unvermeidliche 'Happy Birthday' an." Einer aus der Runde erinnert sich an unseren international erfolgreichen Musiker. "Du hast doch eben von Deinen großartigen Erfolgen als Liedbegleiter erzählt, da steht ein Klavier, spiel' doch bitte mit und unterstütze uns beim Singen!" Peinlich....: Großes Versagen macht sich breit. Wen man noch zuvor als Virtuosen mit den komplexesten Werken vernehmen konnte, steht dem ihm angeblich gut vertrauten Instrument völlig hilflos gegenüber. Ohne eine Bedienungsanleitung ist das Klavier für den musikalischen Handwerker bzw. Akademiker ein Möbelstück wie jedes andere, vergleichbar einem Zahnarzt, der seinen Beruf nur mit aufgeschlagenem Lehrbuch ausüben kann. Für die beim Geburtstag anwesenden Gäste völlig unverständlich...

Möglicherweise erwarten einige unter Ihnen von meinem Vortrag ein paar schnell umzusetzende praktische Tips, wie man problemlos neben den sonstigen umfangreichen Aufgaben der Ausbildung das musikalische Bewußtsein durch Improvisation noch ein bißchen erweitern kann. Aber es wäre banal, Ihnen die uns allen bekannten Formen Menuett, Chaconne, Blues oder andere Formen des Jazz zu nennen. Selbstverständlich werde ich auch im zweiten Teil meines Vortrages auf diese praktischen Aspekte eingehen. Wer aber die Probleme kennt, weiß, daß die Schwierigkeiten vielmehr im Vorfeld liegen. Das wesentliche ist also nicht in der Anwendung der Modelle selbst zu suchen, sondern auch hier ist der Weg, der dort hinführt, das zu ergründende Geheimnis. Von diesen Erfahrungen, die ich vor allem im Improvisationsunterricht habe machen können, möchte ich berichten. Wer einen generellen Zugang zur Improvisationskunst gefunden hat, dem macht auch die Umsetzung bestimmer Formmodelle dann keine Schwierigkeiten mehr. Es ist also dringend erforderlich, die grundlegenden Unterschiede zwischen den improvisierenden und den nicht-improvisierenden Musikkulturen deutlich zu machen. Ich spreche bewußt von verschiedenen Musikkulturen, weil ein Großteil der Studierenden sich eine andere Art von musikalischer Sozialisationen als die bei uns allgemein übliche kaum noch vorstellen können. Erst auf der Basis dieses Grundverständnisses für die andere, improvisierende Musikkultur machen entsprechende Improvisationsübungen im Unterricht einen Sinn. Ich möchte aber die Frage, wie man denn im allgemeinen und unter welchen kulturellen Voraussetzungen einen Zugang zu dieser fremden Kunst bekommt, nicht abstrakt beantworten, sondern Ihnen auf eine relativ unwissenschaftliche Art erzählen, welches mein persönlicher Weg zum musikalischen Improvisieren war. Diese nicht vom Subjekt abgetrennte Methode des persönlichen Erlebnisberichtes scheint dem Gegenstand der Improvisation am meisten angemessen zu sein.

Im Gegensatz zu dem o.g. Künstler hatte ich das Glück, in einer musikalischen, aber relativ unakademischen Familie groß zu werden, in der wertvolles Gedankengut voriger Jahrhunderte aufbewahrt wurde: Im Familienkreise sang man gemeinsam Choräle und Volkslieder und unser Vater begleitete uns - wie man so sagt - "nach Gehör" am Klavier. Selbstverständlich wurde nicht immer in der gleichen Tonart gesungen, je nachdem, wer das Lied angestimmt hatte. Noten gab es nicht. Das Gehör alleine war der Meister und die Richtschnur des Musizierens. Musiktheoretische Vorkenntnisse: Tonika, Dominante, Quintparallelen ? - völlig unbekannt!

Meine Eltern waren stolz, sich für uns Kinder einen privaten Klavierlehrer aus der Stadt leisten zu können. Mit einigem Widerwillen studierten wir Inventionen und Sonaten, aber von Musiktheorie oder gar Improvisationsunterricht auch hier keine Spur! Meine Begeisterung für die Musik war aber ungebrochen, nur ein Brückenschlag zwischen meinen Interessen und denen des Lehrers war außer Sicht. So versuchte ich, Melodien, die ich im Radio gehört hatte, auf dem Klavier nachzuspielen und suchte dazu etwas unbeholfen Dreiklänge in der linken Hand, die ich -wahrscheinlich sehr unkünstlerisch - in Vierteln zu der gerade gefundenen Popmusik-Melodie hämmerte. Erst später erfuhr ich, daß dies "U" sei, - aber da war es schon zu spät! Ich war bereits mit 14 Jahren einer Band beigetreten und von dem eingeschlagenen Weg nicht mehr abzubringen. Wenige Jahre später spielte ich in einer Jazzcombo. Auch im Jazz waren Anfang der 70-er Jahre in Deutschland Noten bei den Jazzmusikern kaum in Umlauf, was mir ja durchaus von zu hause vertraut war. Ich mußte bald lernen, daß "U" keine Kunst ist und daß man "eh" damit kein Geld verdienen kann.

Da mein Vater nebenberuflicher Kirchenmusiker war und ich auch schon einige Jahre Kirchenmusik nebenberuflich ausübte, beschloß ich also Kirchenmusik zu studieren und wurde schließlich Kirchenmusiker in Aachen. Mit weiteren Details meiner Biografie will ich Sie nicht langweilen. Kurzum: Nach meinem Ausstieg aus der Kirchenmusik leite ich heute eine private Musikschule in Aachen, an der ausschließlich Jazzmusiker unterrichten. Es gibt dort Bands für Jugendliche und Erwachsene, außerdem wird Jazz oder Jazzverwandtes gesungen und improvisiert.

In Düsseldorf habe ich einen Lehrbeauftrag für Gehörbildung und Musiktheorie. Die Studierenden stehen aber in dieser Ausbildung nicht direkt unter einem existentiellen Zwang, ein großes musikalisches Bewußtsein zu entwickeln: Beim Orchesterprobespiel oder bei sonstigen Wettbewerbssituationen werden besondere Fähigkeiten der Gehörbildung (Melodien oder Akkordfolgen erkennen oder nachspielen etc.) nicht verlangt. Dies spiegelt sich auch in den Prüfungsordnungen wieder: Eine mangelhafte Leistung im Fach Gehörbildung kann durch eine andere Leistung, z.B. im Fach Musikwissenschaft ausgeglichen werden. Und lassen Sie es mich etwas ketzerisch sagen: Ob ein Musiker etwas hört oder nicht, spielt in dem hier zur Diskussion stehenden Musikbetrieb keine Rolle, entscheidend ist, daß jemand als Klangerzeuger zum richtigen Zeitpunkt funktioniert und die von ihm verlangten Töne absolviert.

Über die Kunst der Improvisation sind eigenartige Auffassungen in Umlauf: Auf der einen Seite gibt es Äußerungen, improvisieren könnten eigentlich nur Musiker mit absolutem Gehör und es sei eben eine mystische Sonderbegabung, die ganz anders als die sonstige musikalische Kunst unerklärbar, unerforschbar sei. Oder aber: Improvisation bestünde nur aus einem primitiven Aneinanderreihen der immer gleichen Grundmuster. Dieser letzte Vorwurf ist vor allem immer aus dem Lager der Neuen Musik zu hören. Dazu kann ich sagen: Die erste Meinung entspringt offensichtlich aus einer völligen Unkenntnis der Improvisationskunst und die zweite beschreibt zum Teil eine handwerkliche Praxis, die allerdings zu ergänzen wäre, denn durch das intuitive Klangforschen, welches bei der Improvisation immer eine Rolle gespielt hat, werden auch neue Zusammenhänge jenseits der eingeschliffenen Grundmuster entdeckt.

Es zeigt sich, daß die Schüler ein lebendiges Interesse an Tonsatz und Gehörbildung zeigen, wenn sie in der Beherrschung dieser Fächer den zentralen Ansatz zur Erreichung ihrer persönlichen Lernziele sehen: Mit Hilfe diesen Fähigkeiten können sie ihre Lieblingsmusik, die möglicherweise nicht in Noten greifbar ist, zum Klingen bringen. Das erscheint sehr plausibel, denn was macht es für einen Sinn, Studierenden, deren größte Erfüllung es ist, in einem Orchester ihren Part zu übernehmen, zwanghaft einen Improvisationsunterricht zu verordnen? Der Widerwille ist hier schon vorprogrammiert und damit das voraussichtliche Scheitern beim Erreichen eines solchen theoretischen Bildungsideals.

Besteht allerdings ein vitales Interesse an U-Musik, kann die Motivationsenergie genutzt werden, beiläufig die wesentlichen Regeln des Tonsatzes zu erklären. Ich arbeite dabei oft ähnlich wie der afrikanische Dozent an meiner Musikschule. Er spielt vor, die Schüler spielen nach. Schriftliche Aufzeichnungen sind verpönt: Entweder hat der Schüler das Wesentliche verstanden und behalten, dann bleibt es auch im Gedächtnis haften oder er hat es nicht behalten, dann helfen auch keine großartigen theoretischen Erklärungen und Schriftstücke. Es ähnelt dem Erlernen eines Handwerks. Der Meister führt eine Fähigkeit vor, wiederholt einzelne Abläufe eventuell noch einmal langsam und der Schüler imitiert.

Sie sehen, daß ich nicht der Meinung bin, daß es darauf ankommt, daß ein Ausbildungsinstitut sich seiner Toleranz rühmt und außer den an erster Stelle stehenden Hauptfächern auch noch ein bißchen Jazzunterricht anbietet, sondern es muß deutlich werden, daß dieses Klangforschen nach Gehör, also ein primär auditives Musizieren ohne Noten sich grundlegend unterscheidet von einer primär visuell orientierten Musikultur, wobei zu fragen wäre, welche Methode dem Fach Musik adäquater ist. Man kann nicht unreflektiert das in der abendländischen Kultur immer wichtiger gewordenen Schriftprinzip mit den Prinzipien der oralen Kulturen, z.B. den der afrikanischen oder afro-amerikanische Kulturen, von denen wir möglicherweise noch viel lernen können, mischen. Welch einen Reichtum haben aber die Kulturen, die von mündlichen Traditionen leben: Märchenerzähler, die Märchen nicht aus Büchern vorlesen, sondern erzählend improvisieren. Musiker, die auf die gleiche Weise mündlich tradiertes Wissen oder Handwerk durch bloßes Zuhören aufnehmen und weitergeben!

B) Grundlagen der Improvisation

Für Studierende, die während ihrer langjährigen Musikausbildung nach dem obersten Grundsatz gelernt haben, möglichst keine Fehler zu machen und künstlerisch nach dem "Höchsten" zu streben, kann es u.U. eine große Herausforderung bedeuten, beim Umgang mit der Improvisation nun genau das Gegenteil lernen zu müssen: Improvisieren heißt nämlich, den Mut zu haben, sich in die Flut der Fehler, Unvollkommenheiten und ggf. der musikalischen Banalitäten hineinzustürzen!

Da ich mich in meinen Ausführungen auf tonale Improvisationen beschränken möchte, geht es zunächst um einfache Vorübungen, wie z.B. einfache Akkordverbindungen der Dur-Moll-Tonalität. Sie sind in einem definierten Tempo zu spielen, und ggf. zu rhythmisieren. So wird zu Beginn gelernt, den Zeitfaktor zu berücksichtigen, der im Tonsatzunterricht meistens vernachlässigt wird! Ein einmal einschlagenes Tempo bzw. die beabsichtigte Stilistik sollte nicht verlassen werden, und das Zeitmaß muß so gewählt werden, daß man sich dabei technisch und mental nicht überfordert.

Oft liegen die Probleme schon darin, daß die Grundkenntnisse des Tonsatzes nicht in einem an der Praxis orientierten Unterricht vermittelt wurden. Manche Hochschulen neigen z.B. zu einer Überbetonung der nur theoretisch und schriftlich vermittelten Funktionsharmonik oder des historisierenden musikwissenschaftlich orientierten Tonsatzunterrichtes, wobei den Studierenden häufig die Elemtarkenntnisse, vor allem der harmonischen Klangvorstellung, fehlen. Hier gilt, es mit fünf praktischen Hinweisen zum elementaren Tonsatzunterricht anzusetzen:

  1. Selbstverständliche Voraussetzungen sind gute Kenntnisse in der Allgemeinen Musiklehre, vor allem der in der musikalischen Improvisationspraxis benutzten Akkordsymbole. Man sollte mit der Improvisationskunst nicht eher beginnen, bevor man nicht die in der zeitgenössischen Improvisation verwendeten Akkordsymbole kennt, wie sie z.B. Sigi Busch in seinem Buch "Jazz & Pop Musiklehre" aufführt.
  2. Vor allem fehlen den Studienanfängern oft praktisch-technische Fähigkeiten im Spiel von Akkorden. Meine Methode ist der sog. "Akkordmarathon": Die 72 Grundakkorde (Dur/Moll 3stg./enge Lage inkl. Umkehrungen) werden nach dem Zufallsprinzip mit Hilfe der Akkordsymbole notiert und sind im zügigen Tempo (mindestens Viertel=60) zu beherrschen. Nicht-Pianisten haben bei diesen zunächst unter rein grifftechnischen Gesichtspunkten betrachteten Fähigkeiten oft Probleme. Ihnen wird empfohlen, zuerst mit dem Spiel von reinen Quinten zu beginnen. Dabei ist der Hinweis nützlich, daß Quinten auf dem Klavier - mit Ausnahme des sog. "HB-Problems" - weiß-weiß, schwarz-schwarz gegriffen werden. Dann sollen sich die Lernenden schrittweise die verschiedenen "Farbgruppen" der einfachen Grunddreiklänge einprägen und im zu steigernden Tempo spielen.
  3. Danach sind die drei wichtigsten Grundregeln zur Verbindung von 4stg. Akkorden zu üben: a) Quintverwandte Akkorde haben eine gemeinsamen Ton, der liegenbleibt, die anderen folgen der "Regel des kürzesten Weges", b) Einfache terzverwandte Akkorde mit zwei gemeinsamen Tönen, ansonsten dito c) "Sekundverwandte" Akkorde sind zunächst in Gegenbewegung zu führen, wobei diese Grundregeln später modifiziert werden. Beispiel: Beatles Let it be
  4. Das Kadenzspiel und die Tonleiterharmonisierung kann durch eine Rhythmisierung seinen trockenen und verstaubten Charakter verlieren (Warum nicht auch im Tangorhythmus?)
  5. Relative Notenschriften wie z.B. die Zahlendarstellungen nach Rameau sollten den Studierenden genau so vertraut sein wie absolute Tonhöhendarstellungen.

Außer diesen technischen und musikalischen Grundfähigkeiten, müssen wir unsere Studierenden damit konfrontieren, daß sie als angehende Künstler sich mit dem Wesen kreativer Prozesse auseinandersetzen sollten. Um Unsicherheiten abzubauen, sollten die Studierenden deshalb mit allgemeinen Grundstrategien vertraut gemacht werden. Danuser hat in seinem Buch "Vom Einfall zum Kunstwerk" mit seinem Kreativitätsdreieck Inspiration, Rationalität, Zufall und deren Mischformen mögliche Ausgangspunkte bezeichnet. Damit das Ganze nicht zu abstrakt bleibt, kann man diese Verfahren an einem außermusikalischem Beispiel demonstrieren mit der Anregung, ähnliches in der Musik zu versuchen. Bei einem kreativen Entscheidungsprozeß wie der Planung einer Urlaubsreise kann man z.B.:

  1. den Ort gefühlsmäßig und intuitiv wählen oder
  2. Preis-Leistungsverhältnisse aus Urlaubskatalogen nach ratioanen Gesichtspunkten studieren,
  3. einen Ort nach dem Zufallsprinzip aussuchen oder
  4. mehrere dieser Prinzipien gleichzeitig anwenden.

Der intuitive Zugang und die Chancen des aleatorischen Prinzips können in Improvisationsbeispielen erarbeitet werden. Wenn die verschiedenen Ausgangspunkte des kreativen Arbeitens erst einmal verstanden sind und die spieltechnischen Voraussetzungen geschaffen sind, werden die Studierenden leicht einsehen, daß der rationale Zugang, bei dem katalogartig die Auswahlmöglichkeiten zusammenstellt werden, ein pädagogisch-praktikabler Weg ist: In rhythmischer und melodisch-formaler Hinsicht muß, nachdem die Grundlagen erarbeitet wurden, ein umfangreiches Vokabular zur Verfügung stehen und in Klang umgesetzt werden können.

Zunächst wird ein einfaches rhythmisch-motivisches System entwickelt, welches auf der Basis von Achteln von der Zweitönigkeit bis zur Achttönigkeit reichen kann. Dabei wird zwischen Volltaktigkeit und Auftaktigkeit unterschieden. Letztere wird hinsichtlich der Anzahl der auftaktigen Töne noch einmal differenziert. So ensteht ein Vokabular, welches z.B. von einem dreitönig auftaktigen sechstönigen Motiv spricht. Um die Thematik anschaulich zu machen, wird mit praktischen Beispielen wird auf die Analogie zum gesprochenen Sprachrhythmus hingewiesen und das ganze improvisatorisch erarbeitet.

Eine ähnliche Übersicht wird zu den melodisch-motivischen Elementen erstellt. Nachdem eine erste Orientierung innerhalb begrenzter rhythmischer Grundmuster gefunden wurde, werden die Studierenden aufgefordert, die Melodik einzubeziehen und folgende Motivvariationen als praktisch angewandte Formenlehre zu improvisieren:

  1. Wiederholung
  2. Tonale Transposition
  3. Rhythmische Augmentation/Diminution
  4. Melodische Augmentation/Diminution
  5. Verschiebung der Einsatzstellen
  6. Verziehrung
  7. Umkehrung/Krebs
  8. Abspaltung/Fortspinnung
  9. Veränderungen der Dynamik, des Klangspektrums oder der Artikulation
  10. Kombinationen oder partielle Veränderungen

Die bisher geschilderten Übungen können bei allen Improvisationsübungen der tonalen Improvisation angewandt werden. Da die musikalischen Präferenzen der Studierenden berücksichtigt werden sollen, gilt es dann aber folgendermaßen zu differenzieren:

C) Historische Musikstile

Erster Fall: Die Vorlieben der Studierenden liegen bei historischen Musikstilen.

Die Improvisation paarig-symmetrischer Melodiebildung im barocken Suitensatz kann als Ausgangspunkt gewählt werden.

Didaktik:

  1. sprachliche Klangskizze
  2. einstimmige Improvisation von 4 Takten
  3. dito zweistimmig, Unterstimme in Halben
  4. dito Unterstimme in gemischten Werten
  5. Grundbegriffe wie Vordersatz, Nachsatz, Halbschluß oder Ganzschluß werden an Beispielen geübt.
  6. Es folgen Menuettimprovisation im 3/4-Takt nach einfachsten Formschemata |: a4(8) :||:b8 :|| (s. MGG -> Menuett) unter Verwendung eines strukturierten Kadenzierungsplans
  7. Schriftliche Aufzeichnungen sind dabei nicht erforderlich

dito Gavotteimprovisationen (2/2-Takt)

andere Improvisationsmodelle

  1. Choralvariationen z.B Oberstimme c.f. Unterstimme kurzes rhythmisch-prägnantes Motiv auf verschiedenen Stufen, zuerst Skalenmelodik
  2. Kadenzvariationen mit Hilfe einer Klangskizze
  3. Orgelpunkttokkata nach Pachelbel
  4. Sequenzimprovisation

Insbesondere das letzte Modell eignet sich hervorragend für die Erarbeitung von Grundlagen der Barockmusik und des tonalen Improvisierens. Deshalb sei hier besonders darauf eingegangen:

Parameter der Sequenzimprovisation

  1. Tonart
  2. Taktart
  3. Grundrhythmus
  4. Umfang und Art des Figurationsmodells
  5. Harmonischer Aktionsrhythmus
  6. architektonisches Bauprinzip der Melodik (LaB s. Anhang )
  7. Satztyp
  8. Sequenzart/Harmoniefolge
  9. Harmonischer Art der Sequenz (Quintfall-, steigende Quintsequenz, fallende Terzsequenz...)
  10. Anzahl der Sequenzglieder

Im Anschluß daran kann das Studium der architektonischen Bauprinzipien bei Bach mit entsprechenden Übungen erfolgen (s. Anhang)

D) Zeitgenössische afro-amerikanische Musik

Zweiter Fall: Die Studierenden haben Vorlieben zur  zeitgenössischen afro-amerikanischen Musik.

Das Kadenzspiel kann durch Bluesimprovisationen erlernt werden: Zunächst wird eine einfache ostinate Boogie-Woogie-Formel in der linken Hand über das Akkordschema des Blues gespielt, dann in der rechten Hand Akkorde in Ganzen. Dann Rhythmisierungen der Akkorde, Einbezieung von pentatonischen Formeln als Melodie, Übungen zu Austerzungen im Blues (Verweis auf Real Book, Blue Monk, die Austerzungen sind selbst vorzunehmen), dann Changes eines einfachen lead-sheets , z.B. Realbook ohne/mit Melodie, verschiedene Satztypen, Begleitung: woom-chick-chick, Arpeggioformen, etc

Eine weitere Übung besteht darin, immer wieder einstimmige Songs in verschiedenen Tonarten spielen oder eigene Komposition mit Hilfe eines einfachen lead-sheets mit der Form AABA 16 Takte zu entwerfen.

Auch Übungen zum Dominantpendel, wie sie in der Popmusik immer wieder üblich sind, eignen sich hervorragend:

T-D-D-T

T-D-T-D

D-T-D-T

T-T-D-T

Die in dern heutigen Jazzpädagogik ausführlich behandelten II-V-I-Verbindungen mit dem Studium fremder oder dem Erfinden eigener Improvisationspatterns sind gangbarere Wege. Dazu gibt es ggf. Play-along-Cassetten wie z.B. Abersold u.a.

Für Sequenzübungen eignen sich die Standards Fly me to the moon, All the things you are, Autumn leaves...

E) Schlußbemerkungen

In meinem Referat habe ich bewußt Improvisationsmodelle der populären U- und E- Musik - kurz Popmusik - nebeneinandergesetzt. Leider ist dies an Musikhochschulen immer noch keine Selbstverständlichkeit. Vielmehr herrscht ein konservatives Bewußtsein vor, welches auch am Schluß wieder anekdotenhaft durch ein Zitat verdeutlicht werden möge: Es stammt von dem Bachschüler Lorenz Mizler. In seiner "Nachricht von der barbarischen Musik der Einwohner im Königreich Juda in Africa, nebst Abbildung ihrer musikalischen Instrumente" schreibt er:

"Es ist zu wundern, daß die in Juda sich niedergelassenen Europäer, u. besonders die Franzosen, die daselbst die Pracht ihres Hausraths u. den Überfluß u. niedlichen geschmack in Speisen eingeführt, doch nicht ihre Musik und Harmonie bei diesem Volke bekannt gemacht haben. Nichts ist leichter: denn diese Völker haben einen Geschmack, und es würde nicht viel Zeit vonnöten sein, sie zu bereden, ihre barbarischen Concerts, die auch die härtesten Ohren zerreißen, abzuschaffen, und dafür sich unserer Musik und Instrumente zu bedienen."2

Mein Vortrag hat mit einer Realsatire begonnen und endet auch mit einer solchen: Diese im historischen Zitat erscheinende eurozentristische Auffassung ist bis in die späten 80-er Jahre des 20. Jh. nachzuweisen, wo sich in der Taschenbuchausgabe des 1989 erschienenen MGG immer noch die Termini "Kunstmusik" und "Negermusik" gegenüberstehen.

Etwas subtiler erscheint dieser Eurozentrismus in anderen Bereichen, z.B. in Werken, die versuchen, die zeitgenössische Musik des 20. Jh. darzustellen, wie z.B. das Standardwerk von Ulrich Dibelius3, in welchem die Existenz des Jazz einfach verschwiegen wird.

So ist improvisierte sog. U-Musik oder die Improvisation, die auf U-Musik basiert, in der Tat eine zwar brotlose, aber doch hohe Kunst. Das Problem, das wir seit geraumer Zeit an den Hochschulen analysieren - fehlendes musikalisches Vorstellungsvermögen, Unfähigkeit, auch nur die einfachsten Volksmusik improvisierend zu imitieren, verweist auf ein grundsätzliches Problem unseres angeblichen kulturellen Fortschritts. Mit ein paar Schönheitsoperationen ist es da nicht getan. Wir sollten die in den oralen Kulturen gepflegten Künste studieren, in denen Musik als ein kreativer Prozeß verstanden wird und nicht als ein in Konkurrenz stehendes Produkt des Musikmarktes - einer wettbewerbsverseuchten Musikkultur, der letztlich die musikalische Basis fehlt. Musik muß wieder zu einer Kunst werden, dessen Basis nicht das nachschaffende Interpretieren von Musikwerken ist, sondern die Beherrschung des Instrumentes im ureigentlichen handwerklichen Sinne: der musikalisch-autonome Künstler muß kraft seines Tonvorstellungsvermögens Musik auch ohne Notenvorlage schaffen können. Der nur sich auf sein Hörorgan verlassende - quasi "erblindete" - Musiker", nicht gerade Idealbild des derzeitigen Musikhochschulwesens, sollte seinen edlen Stand als "Seher" wieder einnehmen dürfen.4

F. Anhang:

(1) Wichtige Anregungen für diesen Beitrag verdanke ich den folgenden Büchern:

(2) Zitat aus L. Chr. Mizler, Musikalische Bibliothek...Band III,3, 1746, S.577

(3) Ulrich Dibelius, Moderne Musik 2 Bd. , München 1988

(4) Und es wäre sogar noch zu fragen: Widerstrebt es nicht dem Wesen der Zeitkunst, zu verabredeten Zeitpunkten geplante akustische Äußerungen von sich zu geben? Der "Seher" sollte keine fertigen Konzepte absolvieren, sondern aus dem Moment heraus die "Zeit" deuten....

Jazz

Menuett

Architektonische Bauprinzipien bei J.S. Bach

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