Grundsatzfragen der harmonischen (Hör-)Analyse dargestellt am Schubertlied "Rastlose Liebe" op.5, Nr.1, Takt 28-57

Lutz Felbick

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Es ist in der gegenwärtigen Tonsatzdiskussion umstritten, ob es zulässig ist, eine aktuelle Analysemethode für ein Werk älteren Datums zu wählen. Zweifellos ist es eine Tatsache, dass der Komponist zum Zeitpunkt des Komponierens noch nicht in den Formulierungen der späteren Kategorienlehre hat denken können. Andererseits stellt aber z.B. das Phänomen des sich zur Tonika auflösenden Dominantakkordes, ob in dieser Weise formuliert oder nicht, eine Grundkategorie des musikalischen Hörens bzw. des Tonsatzes dar, die schon in der Clausellehre der Renaissancezeit ihre Wurzeln hat. D.h. diese wesentliche Kategorie war vorhanden, wenn auch mit anderen Akzentsetzungen: Penultima / Ultima oder Dominante / Tonika - es entsteht in beiden Fällen besteht die musikalische Logik in einem zur Auflösung drängenden Spannungsklang. Auch historisch lassen sich diese kadenziellen Vorgänge kaum voneinander trennen. Jene frühere Theorie sieht diesen satztechnischen Vorgang lediglich aus einer primär melodischen Perspektive, die spätere Theorie rückt den Zusammenklang und den Quintfall des Basses an die erste Stelle der Betrachtung.

Das Urteil, das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun und  man dürfe beispielsweise auch niemals ein Schubertlied mit den Methoden des zweiundfünfzig Jahre später geborenen Riemann oder gar mit denen des weit über hundert Jahre später geborenen Wilhelm Maler analysieren, ist angesichts dieser Erkenntnis sicher zu pauschal. Jedenfalls scheint es müßig, über die grundsätzliche Anwendung derartiger Terminologien zu streiten, sofern sie offensichtlich inhaltlich den gleichen Sachverhalt ausdrücken. Es ist in den meisten Fällen viel interessanter, sich darüber zu streiten, wie die dem Werk innewohnende Logik terminologisch am besten gefaßt werden kann als der oft nicht zu lösenden Frage   nachzugehen, ob und wie der Komponist kategorial über sein Schaffen sprach.

Musikalische Analyse bedeutet, die Elemente eines Werks den Grundkategorien einer Theorie des musikalischen Hörens bzw. des Tonsatzes zuzuordnen. Diese können durchaus bei einer Ausrichtung auf das Hören von Klängen oder bei der Betrachtung von Noten verschieden sein! Es gibt verschiedene Tonsatztheorien, eine Reflexion über eine Theorie des musikalischen Hörens findet man bei Musiktheoretikern seltener.

Ziel jeder Analyse ist es, Erkenntnisse zu gewinnen und das Verständnis für das Kunstwerk zu vertiefen. Musikalische Analyse wählt dabei entweder einen auditiven oder visuellen Ausgangspunkt oder stellt eine Kombination von beiden dar. Im ersten Falle spricht man von Höranalyse im zweiten von konventioneller Tonsatzanalyse, die in der Regel auf der Betrachtung der Partitur basiert. Bei letzterem werden in der Regel die Aspekte des hörenden Nachvollziehens oder gar eine Theorie des musikalischen Hörens wenig beachtet. Außerdem ist die Höranalyse im visuellen Zeitalter an den Hochschulen weniger verbreitet.

Der noch zu einer Zeit anderer Paradigmen wirkende Hugo Riemann, der als Begründer der sogenannten Funktionsharmonik bekannt ist, hat zweifellos sein ganzes Leben an der Erforschung des musikalischen Hörens und an der Aufstellung einer diesbezüglichen Theorie gearbeitet. Analyse verstand er in erster Linie als Höranalyse.

Es hatte gute Gründe, warum es Riemann am Herzen lag, die Kategorien des musikalischen Hörens zu erforschen. Er war in seinen Studien davon ausgegangen, dass das musikalische Hören ähnlich en Gesetzmäßigkeiten folgt wie das Hören von Sprache, handelt es sich doch in beiden Fällen um die cerebrale Verarbeitung von Schallreizen. Will man bei der Analyse halbwegs überzeugen, wird man um die Aufstellung einer durchdachten Kategorienlehre nicht umhin können. Die Kognitive Psychologie bestätigt Riemanns kategorialen Grundansatz. Die wenigen gesicherten Erkenntnisse sind allerdings noch bruchstückhaft:

Man muß vermuten, daß beim Wahrnehmungsvorgang die Grundbausteine und Vorstellungen im Langzeitgedächtnis (LINDNER 1977) als Repräsentationen bzw. patterns (AUHAGEN 1994,S. 233, GRUHN 1998) gespeichert und von dort  bei Bedarf werden. Verschiedene Faktoren spielen bei diesem Verarbeitungsprozeß eine entscheidende Rolle:

Diese kategorialen Repräsentationen des Langzeitgedächtnis war der Forschungsgegenstand Riemanns. Es ist heute weniger bekannt, dass er sowohl eine rhythmische als auch - hinsichtlich des Dualismus umstrittene - harmonische Funktionstheorie geschaffen hat. In seinen 1914-16 erschienenen Aufsätzen "Ideen zu einer 'Lehre von den Tonvorstellungen ' " macht er deutlich, daß im Mittelpunkt seiner ganzen Forschungen die Beziehungen zwischen dem Hören, genauer "den logischen Funktionen des menschlichen Geistes" beim Hörvorgang, und den musikalischen Ereignissen gestanden hat. So resümiert er hier: "Daß meine eigenen theoretischen Arbeiten bisher nichts anderes waren als Bausteine, Beiträge zur Schaffung einer solchen Lehre [ der Tonvorstellungen] ist mir nicht im geringsten zweifelhaft." Riemann definiert in dieser Zeit die zentrale Frage, die zu einer Theorie des musikalischen Hörens führt: "Alles wird natürlich darauf ankommen,... zu ergründen versuchen, welche Kategorien die lebendig arbeitende Tonphantasie leiten und bestimmen, ihr Gesetze geben."

Solche Kategorien sind seine Funktionssymbole, die heute im allgemeinen in der durch Grabner bzw. Maler erfolgten Modifikation gebräuchlich sind.

In diesem Sinne kann man ein musikalisches Kunstwerk befragen: Welche kategorialen patterns höre, d.h. empfinde ich? Wohlgemerkt "empfinde ich", nicht "sehe ich"! Bezogen auf die Harmonik von Werken der Dur-Moll-Tonalität: Wo gibt es harmonische Wendungen, die mir vertraut sind, vor allem dominantische Empfindungen, tonikale Empfindungen etc. Wo entsteht das Gefühl kadenzieller Abläufe? Wo empfinde ich einen Tonartwechsel?

Aus der Art dieser Fragestellung ergibt sich, dass die harmonischen Empfindungen durchaus verschieden sein können, je nachdem, welche kategorialen Repräsentation im Langzeitgedächtnis des analysierenden Subjektes gespeichert sind. Ich möchte eine Lösung exemplarisch vorstellen:


Schubertlied "Rastlose Liebe" op.5, Nr 1 Takt 28-57 (Ausgabe für Mittlere Stimme)

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Takt 28 29 30 31 32

Tonart C:

tG=S7 DD7 

Tonart Es:

D D
Takt 34 35 36 37 38

 

       
Takt 39 40 41 42 43
(Dv D7) Sp=t    (D7) 

Tonart Fm:

[Sp] D7 D t =
Takt 44 45 46 47 48

Tonart Cm:

DDv 

5

5

DDv 

5

5

Takt 49 50 51 52 53
DDv=DDv 

Tonart Am:

DDv 

5

D D t
Takt 54 55 56 57  
t=Tp 

Tonart C:

S   s D T