Vortrag in der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart am 15.10.99
(in der ergänzten Fassung vom 12.07.2006)
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Höranalyse zu den frühen Liedern der "2. Wiener Schule"
F. Auflistung methodischer
Verfahren
Zunächst möchte ich Sie in meinem Vortrag zu den "Methoden der Hörerziehung" nicht damit langweilen, lediglich all das noch einmal aufzulisten, was in der recht überschaubaren Literatur bereits ausführlich dargestellt ist. Vielmehr geht es mir um grundsätzliche Reflexion über Prinzipien und Akzentsetzungen. Es geht um die Bewertung der bekannten Methoden und um die Frage, welche Balanceakte im einzelnen zwischen verschiedenen Teilbereichen zu bewältigen sind und ob der ein oder andere Unterrichtsgegenstand möglicherweise zu ergänzen ist.
In der Pädagogik werden häufig die Fächer Didaktik und Methodik als getrennte Bereiche behandelt. In der Praxis zeigt sich, daß diese Themen nicht voneinander zu isolieren sind. Durch die Methodenwahl werden bereits entscheidende Aussagen über Gewichtung, Strukturierung und Reichweite von Unterrichtszielen getroffen. Außerdem wird eine Methodik nur im Hinblick auf klar umrissene Zielsetzungen sinnvoll.
Bevor ich auf diese Methodik im einzelnen eingehe, seien deshalb zunächst drei verschiedene, sich z.T. gegenseitig durchdringende Arbeitsfelder als Unterrichtsinhalte genannt:
1. Das bekannte Curriculum der traditionellen Gehörbildung (1) bildet den unverzichtbaren Kern der Arbeit. Aber hierbei gilt es zu differenzieren, denn ältere Auffassungen der Gehörbildung, die darauf abzielten, Grundelemente der tonalen Musik in singulären Intervallbildungen und isolierten Einzelakkorden zu sehen, können aufgrund neuerer hörpsychologischer Forschungen als überholt gelten. Ausgangspunkt sollten nicht punktuelle Geschehnisse, sondern patterns, musikalisch sinnvolle Motive, elementare Akkordverbindungen und Gestalt- und Strukturkategorien sein, die die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses nicht überschreiten. Punktuelle Elemente sollten nur durch gelegentliche Fokussierung, aber möglichst im Zusammenhang mit den vollständigen Gestaltbildungen ins Bewusstsein treten.
2. Der zweite, den Lehrenden in seiner Kreativität herausfordernden Unterrichtsinhalt ist die werkorientierte Hörerziehung, die als eine Teilaufgabe des in der aktuellen Musikpädagogik diskutierten adäquaten Musikverstehens betrachtet werden kann. Musikverstehen sei hier im Sinne Eggebrechts in seiner umfassenden emotionalen und reflektierenden Bedeutung gemeint. Durch diese Öffnung stellt der Begriff "Hörerziehung" eine Erweiterung des älteren Begriffes " Gehörbildung" dar und beschäftigt sich auch mit Wahrnehmungsprozessen, die jenseits der Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses liegen. Eine werkorientierte Hörerziehung sollte sich, neben der Reflexion eigener Hörerfahrungen wenn möglich an den Intensionen des Komponisten orientieren. Daraus ergibt sich, dass das Fach "Hörerziehung" in diesem zweiten Teilbereich der Vielfalt der kompositorischen Standpunkte gerecht werden muss (2). So unmöglich es ist, alle kompositorischen Ansätze im Detail zu studieren, so wichtig erscheint es mir, exemplarisch zu zeigen, dass es keine Einheitsformel gibt, mit der die unterschiedlichen Hörweisen - und schon gar nicht die des 20. Jahrhunderts - erfasst werden können. Durch eine breit angelegte Hörerziehung sollte die musikalische Auffassungsgabe für die unterschiedlichsten Stilistiken, höranalytische Fähigkeiten und ästhetisches und kontextuelles Einfühlen erhöht werden. Dies geschieht nicht zuletzt durch die Erweiterung der Repräsentanz von musikalischen Patterns im Langzeitgedächtnis.
Das sich ein am Werk orientiere strukturelle Hören sollte sich zunächst auf die Form beziehen, verbunden mit der Besprechung der charakteristischen Merkmale der Form; ausgewählte Barock- und Renaissance-Tänze, stilisierte Formen und deren "Original", Rondo - Zusammensetzung, Substanzgemeinschaft, Fugen - Themeneinsätze, Engführung, Vergrößerung, Verkleinerung, etc., Variation - Motiv-/ Themenverarbeitung, "Sonatenhauptsatzform", melodische Periodenbildung einschließlich deren Variationen etc. Derartige "Höraufträge" können sich selbstverständlich auf di3 unterschiedlichsten Kriterien beziehen. Entscheidend ist die präzise Formulierung des "Hörauftrages".
Der Beruf des Musikers erfordert vor allem das kritische Hören. Unterschiede zwischen Notentext und Gehörtem müssen erkannt und die Kompositionsstile unterschieden werden. Beim Vergleich verschiedener Aufnahmen sollen die spezifischen Merkmale der jeweiligen Interpretation benannt werden. Auch das Erkennen von Instrumentierungen kann geübt werden: So sind Orchester-Besetzung hörend zu analysieren (stilbedingte Kriterien), Instrumentationsdiagramme zu erstellen und Einzelinstrumente zu erkennen. Auch sollen die Studierenden im Kontakt mit Literaturbeispielen im Umgang mit einer Stimmgabel sicher werden. In melodischer Hinsicht sollen sie andere Tonhöhen erkennen und ansingen, Skalen aus Gehörtem zusammenstellen, Tonarten erkennen ("Do" finden), diatonische, chromatisierte Melodien und Kirchentonarten - Charakteristika hörend unterscheiden können. Die Arbeit mit der Stimmgabel erstreckt sich auch auf Harmonik. Die Übungen bestehen darin, die Position des Stimmgabeltones innerhalb eines Akkordes zu suchen, 3- und 4-stimmige Akkorde, grundständig und in Umstellung, ungewöhnliche Weiterführung (Auflösung, Terzverwandtschaft, etc.), Stufenfolgen erkennen. Es sollen Rhythmus-Modelle und rhythmische Besonderheiten (Hemiolen, Triolen, Taktwechsel), etc. erkannt werden.
3. Das dritte Unterrichtsfeld stellt eine grundsätzliche Reflexion über die vielfältigen Aspekte der auditiven Wahrnehmung einschließlich der dabei wirksamen Mechanismen dar. Diese Bedingungen des musikalischen Hörens sind vor allem im Dialog mit den Studierenden zu erarbeiten. Angesichts der Vielfalt können die Themenfelder im Vertrauen darauf, daß die Studierenden angeregt werden, sich zu gegebener Zeit mit dem ein oder anderen nicht prüfungsrelevanten Aspekt näher zu beschäftigen, im Unterricht nur angerissen werden. Denkbar wären beispielsweise elementare Fragestellungen: Wo habe ich Wahrnehmungsschwierigkeiten und welche Gründe lassen sich für diese Hörbarrieren anführen? Gegenstand der Musik ist nach Lachenmann die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung. Seine weitreichenden Analysen der Bedingungen des Hörens im gegenwärtigen Musikbetrieb sollte den Studierenden nicht unbekannt sein. Mir ist es aber auch wichtig, die in der Musikpsychologie und in den sonstigen relevanten Disziplinen diskutieren Aspekte in diesem Zusammenhang anzusprechen. Angefangen von dem Phänomen des Intensionstremas, also der Auswirkung des Faktors Streß beim Hören in Unterricht und Beruf, wie es bei Kühn oder Kral/Zopf eindrücklich beschrieben ist, bis hin zu wichtigen Forschungsergebnisse bzw. Hypothesen:
Carl Stumpf (Stichwort: Tonverschmelzung)
Ernst Kurth (Stichwort: lineare Energien)
Hugo Riemann (Stichwort: Kategorien des musikalischen Hörens)
Christa Nauck-Börner (Stichwort: chunking, Gedächtnisforschung)
Robert Jourdain , Wilfried Gruhn (Stichwort: Musik und Hirnforschung)
Hans Heinrich Eggebrecht (Stichwort: Musik verstehen)
Bernd Enders / Doris Geller (Stichwort: Intonationsfragen)
Edwin E. Gordon, (Stichwort: Audiation, Lerntheorie)
S. Handel (Stichwort: Hörforschung)
oder Kral/Zopf und viele andere zu den Hörertypologien und den Gemeinsamkeiten beim Hören von Ton- und Wortfolgen.
Zuletzt möchte ich den Begriff der Zuhörenergie ergänzen. Wie ist um unsere Zuhörenergie bestellt, wenn wir so viele Informationen aufnehmen: Namen, Fakten, Töne, Klänge... Die amerikanische Hörforscherin und Komponistin Pauline Oliveros ermöglicht es bei ihren "Deep Listening-Retreats", durch meditatives Hören einen erweiterten Horizont zu erlangen.
Diese drei von mir aufgeführten inhaltlichen Bereiche sollten innerhalb einer verantwortungsvoll konzipierten Hörerziehung in unterschiedlicher Gewichtung abgedeckt werden. Die Hörerziehung muß sich der Tatsache bewußt sein, daß angesichts der vielfältigen Aspekte und der Breite möglicher Unterrichtsinhalte eine Beschränkung des Stoffes von Nöten ist. Priorität muß für die Absolventen einer Musikhochschule die Fähigkeit sein, bei elementaren Gestaltstrukturen der tonalen Musik eine Verbindung zwischen der inneren Tonvorstellung und dem Noten- bzw. Griffbild herzustellen, mit anderen Worten: Studierende sollten am Ende Ihres Studiums grundlegende Improvisations- und Notationsaufgaben lösen können. Sie sollen in der Lage sein, auf der einen Seite ein Musikinstrument ohne eine Notenvorlage zum Klingen zu bringen und auf der anderen Seite eine Notenvorlage ohne ein Musikinstrument hörend zu erfassen. Dabei muß es gelingen, die Balance zwischen der Erlernung dieser handwerklichen Fähigkeiten und der Weitung des Hörfeldes und der nötigen Reflexionen zu erreichen.
Die dafür erforderlichen methodischen Prinzipien und Verfahren möchte ich im folgenden anreißen.
Zu den bekannten methodischen Grundsätzen gehört die Fortschreitung vom Elementaren zum Komplexen, anders ausgedrückt: der Weg von der anfänglich bewußten Fokussierung eines Einzelaspektes, bei welchem andere Parameter in den Hintergrund gerückt werden, bis zu dem am Ende erreichten Gesamtbild.
Bei der Beachtung dieses Grundsatzes ergibt sich ein nicht zu eliminierendes Problem, welches ich als "pädagogisches Dilemma" bezeichne: Obwohl das Ziel eines jeden Unterrichts der differenzierte Umgang mit komplexen Inhalten ist, müssen anfangs bestimmte Parameter vernachlässigt werden um der begrenzten Aufnahmekapazität der Lernenden gerecht zu werden.
Der sich daraus ergebende unvermeidbare Konflikt zwischen dem Detailaspekt und dem Globalaspekt kann gemildert werden durch das in der Pädagogik als Spiralcurriculum bekannte Prinzip: in einer aufsteigenden Spirale wird eine Mittelachse immer wieder möglichst weiträumig mit aufsteigender Annäherung und zunehmender Differenzierung umkreist.
Daraus folgt, daß die Musik des 20. Jahrhunderts nicht als ein erst im Hauptstudium "auch noch" zu erwähnender Spezialfall der Musikgeschichte zu betrachten ist. Ideal wäre es, wenn neben gelegentlichen Schwerpunkstunden, die Hauptfelder der Hörerziehung in jeder Unterrichtsstunde in Erscheinung treten könnten. Gelingt die methodische Gradwanderung zwischen der globalen und der fokussierenden Wahrnehmung, so ist ein wesentliches Ziel erreicht.
Prinzipiell sollte eine Methodik und Didaktik auf Transparenz und Übersichtlichkeit hin angelegt sein. Bekanntlich wird dadurch die Lernmotivation erhöht. Daß bei der Arbeit die Erfolgserlebnisse der Studierenden nicht vergessen werden dürfen, kann nicht oft genug wiederholt werden.
Als ein bewährter methodischer Ausgangspunkt kann die Tatsache gelten, daß die Wahrnehmung dann am intensivsten ist, wenn sie nicht nur durch eine mentale Verarbeitung der wahrgenommen akustischen Reize geschieht, sondern durch eigene Produktion oder Reproduktion, die mit kinästhetischen Körperempfindungen verbunden ist.
Dazu ist am besten die Improvisation ohne Notenvorlage oder Konzeptpapieregeeignet. Da sie der auditiven Denkweise entstammt - man denke an die in den oralen Kulturen hervorgebrachten Kunstformen - und visuelles Denken bewußt zurückstellt, hat sie für Hörerziehung eine bevorzugte Bedeutung. Die Klangwelt wird durch das Prinzip von trial and error alleine auf der Basis einer inneren Tonvorstellung erforscht. Die größten Probleme liegen bei traditionell ausgebildeten Studierenden in den Spielhemmungen, da die klanglichen Ergebnisse im Verhältnis zu den sonstigen künstlerischen Betätigungen am Anfang sehr mager sein mögen. Der Unterricht sollte ein Atmosphäre schaffen, in der es nicht peinlich ist, sich mit der Improvisation auf Anfängerniveau zu beschäftigen. Mit der Bewußtmachung der beiden Sätze: "Improvisieren heißt: Fehler machen!" und "Wer improvisieren kann, der hört bewußter!" ist eigentlich alles gesagt. Deshalb sollte diese Improvisationsübungen einen breiten Raum in der Hörerziehung einnehmen. Das kann auf vielfältige Weise geschehen: Entweder durch spezielle instrumentale oder stimmliche Improvisationsaufgaben oder in Form der von Frau Matz so bezeichneten instrumentalen Klangskizze, also der Nachimprovisation. (I. Matz, Gehörbildung heute, in: Musiktheorie, 14.Jg. 1999, Heft 4, S. 328-334). Neben dieser instrumentalen Klangskizze bevorzuge ich auch die durch Sprechen oder Singen produzierte Klangskizze. Dabei können die Möglichkeiten der Stimme von klangimitierenden Silben bis zu unkonventionellen Lautbildungen auch für viele Musikstile des 20.Jh. genutzt werden. Die Nachspiel- oder Nachsingübungen von historischen Musikstilen gehören ebenfalls zu diesem methodischen Themenkreis.
Die elementare Bedeutung der Stimme, sowohl in der Produktion als auch in der Reproduktion ist für die verschiedensten Stilistiken evident. Für den Umgang mit tonaler Musik findet die relative Solmisation in verschiedenen Spielarten in der neueren Literatur zu Recht wieder größere Beachtung. Die Tatsache, dass Deutschland zu den wenigen Ländern gehört, in denen die Solmisation relativ wenig beherrscht wird, kann auf Dauer nicht hingenommen werden. Sofern das oben beschriebene "pädagogische Dilemma" des vereinfachenden Weges bewußt bleibt, bewerte ich die oft beschworenen Gefahren dieser einseitigen Methode gegenüber den unbestreitbaren Vorteilen als durchaus hinnehmbar. Gleichzeitig halte ich es aber für problematisch, die Solmisation auf Chromatik auszudehnen. Die Beschränkung auf die Diatonik dürfte ausreichen, um die Prinzipien zu verdeutlichen. Die Verwendung von Stufenzahlen im Sinne Rousseaus anstelle von Silben hat sich ebenfalls bewährt (3) So stellt die Solmisation mit Hilfe von Silben oder Zahlen für melodische Elemantaraufgaben eine methodische Grundlage dar. Das logische Pendant zur Solmisation auf harmonischem Gebiet ist die Funktionstheorie. Sie ist ihrem Wesen nach keine Musiktheorie, die z.B. dem historischen Anspruch des Kunstwerkes genügen würde, sondern ist aus den Bemühungen Riemanns entstanden, eine Theorie des musikalischen Hörens zu entwickeln. Sie hat lediglich die Aufgabe, für die harmonischen Hörempfindungen des wahrnehmenden Subjekts eine kategoriale Terminologie auf der Basis einer relativen Notation zur Verfügung zu stellen.
Um nicht in einer methodischen Sackgasse zu landen, erscheint es grundsätzlich sinnvoll, die vielfältigen Anregungen aus der Literatur zur Gehörbildung und Hörerziehung zu nutzen. Da das Methodenrepertoire dieses Faches begrenzt zu sein scheint, kann es sich bei den ergänzenden eigenen Entwürfen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - lediglich um mehr oder weniger modifizierte Varianten der bereits bekannten Methoden handeln. Man wird sehen, ob es in Zukunft hierzu grundsätzliche neue Erkenntnisse geben wird. Heute geht es darum, sich der Schwächen mancher ältern Lehrbücher bewußt zu sein. Manche methodischen Ansätze basieren darauf, bestimmte Aspekte fokussierend und sogar auf unzulässig simplifizierende Weise in den Mittelpunkt zu stellen, z.B. Sekles oder die französische Solfègeliteratur (4). Jedoch sollte man die in solchen Methoden innewohnende Ambivalenz nicht verschweigen: Sie führen u.U. zu beeindruckenden Unterrichtserfolgen, denn den Studierenden wird für den Anfang ein handfestes und klar gegliedertes Übungsmaterial an die Hand zu geben, welches ohne zeitraubende Einarbeitungszeit studiert werden kann. Benutzt man aus pädagogischen Gründen solche Methoden, gilt es sorgfältig abzuwägen, denn viel zu häufig erkennt man in bestimmten Unterrichtskonzepten lediglich die müßige Anstrengung, bestimmten einseitigen musikalischen Ideologien den Weg zu bahnen.
Das Werk von Paul Schenk ist in mancher Beziehung reichhaltiger angelegt. Vor allem bietet es eine auf der Tonika-Do-Methode aufbauende und gleichzeitig sie zu anderen Skalen erweiternde Dimension. Zur Erschließung der osteuropäischen Rhythmik und Melodik werden zahlreiche Beispiele angeführt.
Der Nachteil bei Schenk besteht darin, daß die Originalliteratur zur Melodik des 20. Jahrhunderts völlig fehlt. In dieser Hinsicht stellt Edlunds Sammlung zur freitonalen Melodik die notwendige Ergänzung dar.
Sinnvoll ist eine gelegentliche Demonstration der melodischen Methodik von Monika Quistorp. Durch eine Trennung der Parameter Tonhöhe und Rhythmus gelingt es, komplexe lineare Strukturen zum Gegenstand des Unterrichts zu machen. Auch das von ihr demonstrierte Fehlerhören muß Bestandteil einer Methodik der Hörerziehung sein.
Das in vielen Punkten auch heute noch grundlegende Standardwerk von Mackamul zeigt in vieler Hinsicht Methoden jenseits des älteren Musikdiktates auf. Positiv ist zunächst seine Methodenvielfalt: Er bevorzugt beim Musikdiktat Originalliteratur, seine Nachspiel- und Nachsingübungen, Vom-Blatt-Singübungen, sein Veränderungen-Hören, seine häuslichen Aufgaben" (Stilles Durchhören, Memorieraufgaben von "freitonalen" Melodien) und seine Höranalyse sind auch heute noch unverzichtbar. Schließlich erweitert er die Möglichkeiten noch in Bezug auf das von ihm nicht weiter ausgeführte Formen-Hören, das Klangfarbenhören und den Interpretationsvergleich. Daß er das Rezeptionsproblem für die Musik des 20. Jahrhunderts durch eine grundsätzliche methodische Unterscheidung zwischen intervallischem und dur-moll-tonalem Hören lösen will, kann als einseitig und veraltet gelten.
Das neue Gehörbildungsbuch von Kaiser gibt Anregungen zu einem vielfältigen Umgang mit Tonträgern. Auch seine Lückentexte sind sinnvoll im Unterricht zu verwenden. Ich kann ihm allerdings nicht folgen, wenn er alleine Sequenz- und Kadenztypen als Grundlage des mehrstimmigen Hörens definiert, denn das trifft sicher nur für einen begrenzten stilistischen Bereich zu. Auch sein allzu kritisches Verhältnis zum Musikdikat kann ich nicht nachvollziehen, ist dies doch eine Möglichkeit, Gehörtes satztechnisch exakt zu beschreiben. Insgesamt werden systemfernere musikalische Möglichkeiten wie die Harmonik von Bachchorälen oder die zeitgenössische Musik in seinen zwei Bänden vernachlässigt.
Vorbildlich sind die methodischen Ansätze von Kral/Zopf. Das Spektrum wird erweitert durch multiple-choice-Aufgaben, durch selektives Hören einzelner Parameter bei komplexen Strukturen, durch satztechnische Aufgabenstellungen, die mit einer Anleitung für das Erstellen eigener Tonbandbeispiele verbunden ist, durch Anleitung zu Gesangsimprovisationen über Akkordfolgen und vielfältige Reflexionen über Hörweisen.
Für höranalytische Aufgaben der Neuen Musik gibt es viele Anregungen bei Haas/ Karkoschka.
Die Methoden der musikpädagogischen Literatur für allgemeinbildende Schulen sollte auf der Hochschulebene durch musikerspezifische Hörhilfen ergänzt werden. Das bedeutet, daß neben die - auch durch Notenunkundige erstellbaren - Hörprotokolle und graphischen Hörskizzen komplexere Partiturextrakte treten können, die zu kommentieren sind.
Die nicht zu unterschätzende Fähigkeit, komplexere Partituren hörend mitzuvollziehen oder die Aufgabe, eine qualifizierte Kritik zu einem Konzert mit Neuer Musik zu schreiben, könnte ich mir als weitere Methode der Hörerziehung zur Neuen Musik vorstellen.
Zuletzt sollten noch die Möglichkeiten des individuellen Lernens mit Hilfe der multimedialen Computerlernprogramme erwähnt werden. Der auf CD-ROM zugängliche Computerkolleg Musik von Enders zeigt, welche Möglichkeiten sich grundsätzlich auftun. Langfristig sollte sein auf MIDI-Daten basierendes Konzept allerdings durch Audio-Dateien ergänzt werden. Auch das Internet muß heute als hervorragende Möglichkeit gesehen werden, den Studierenden kurze mp3- oder wav-Dateien als Klangbeispiele mit beigefügtem erläuternden Aufgabentext zur Verfügung zu stellen. Hier gilt es, der Fülle der in Umlauf befindlichen Billigprogramme eine entsprechende Qualität entgegenzusetzen. Der Gruppenunterricht könnte auch dazu dienen, eine Einführung in die Bedienung solcher individuell genutzten Programme zu bieten. Es bedarf allerdings hier keiner weiteren Ausführung, in welchen Punkten die lebendige Hörerziehung dem technischen Medium überlegen ist.
Angesichts der Tatsache, daß das Musikstudium die Aufgabe haben sollte, ein möglichst breites Spektrum des Musikverstehens zu ermöglichen, gilt es, einen Balanceakt zu erreichen zwischen einer Methodenvielfalt auf der einen Seite, die die unterschiedlichsten Aspekte des musikalischen Hörens umfasst und einer Orientierung auf der anderen Seite, die die Vielfalt der zu erlernenden Fähigkeiten und Themenbereiche strukturiert in verschiedenen individuellen oder lehrerbezogenen Studienmöglickeiten anbietet.
Ich möchte ein konkretes Beispiel zu einer von mir entwickelten Methodik zu den Liedern der Wiener Schule aus der Übergangszeit der tonalen zur freitonalen Phase geben (Folie). Ich führte sie in Düsseldorf sowohl in der Form der auditiven Analyse (Höranalyse) als auch mit Hilfe der anschließenden visuellen Analyse mit den Studierenden durch. Bei der auditiven Analyse wurde den Studierenden zunächst keine Vorlage gegeben, erst beim zweiten Hören legte ich einen Partiturextrakt der Gesangsstimme ohne Klavierbegleitung vor. Die Aufgabenstellung bestand darin, gewisse tonale Ruhepunkte in den Liedern zu bestimmen. Die wiederholte Rezeption führte zu unterschiedlichen Bewertungen. Ziel des Unterrichts war es unter anderem, zu zeigen, daß die Tonalität in hörpsychologischer Hinsicht ein dynamischer Begriff ist. Mit Hilfe der visuellen Analyse, die für die späteren Lieder angewandt wurde, konnten gewisse musikalische Gestalten erkannt werden, die durch auditive Analyse nicht wahrnehmbar waren. Im Verlaufe des Seminars wurden so immer mehr tonale Zentren und Strukturen erkannt. Aus einer zunächst als chaotischen empfundenen Klangstruktur leuchteten zunehmend Orientierungspunkte, die eine adäquate Rezeption ermöglichte.
1. Nachsingübung
2. Vomblattsingen tonaler Melodien
3. Relative Solmisation
4. Stufenzahlen
5. Solfège
6. Vomblattsingen freitonaler („polytonaler“) Melodien
7. Klangskizze (Nachimprovisieren eines Klangbeispiels)
8. Nachspielübung (Exakte Imitation)
9. Musikdiktat Rhythmus
10. Musikdiktat einstimmig
11. Musikdiktat zweistimmig
12. Musikdiktat dreistimmig polyphon
13. Musikdiktat vierstimmig (z.B. Bachchoral)
14. Erkennen charakteristischer harmonischer Phänomene
15. Funktionsdiktat
16. Fehlerhören
17. Intonationsübungen
18. Höranalyse
19. Formhören
20. Verlaufskizze
21. Spezielle Gesangsübungen:
22. Akkordeigene Töne nachsingen
23. Akkordfremde Töne dazu singen
24. Töne zu einem Akkord singen
25. Rahmensatz bestimmen
26. Dynamiknotation
27. Instrumentierungshören
28. Parameterunterscheidung
29. Mutiple Choice-Aufgaben
30. Stilzuordnung
31. Tonalitätsbestimmungen
32. Erkennen stiltypischer Patterns
33. Rhythmusübungen
34. Notation von eigenen Kompositionen
35. Transkriptionsaufgaben
36. Gedächtnisaufgaben
37. Erstellen einer Hörpartitur
38. Stimmgabelübungen
39. Einzelintervalle simultan
40. Einzelintervalle sukzessiv
41. Dreiklänge inkl. Umkehrungen simultan
42. Dreiklänge inkl. Umkehrungen sukzessiv
43. Skalenerkennung
44. Interpretationshören
45. Melodie-Rhythmusvarianten (s. Monika Quistorp)
46. Punktdiktat
47. Identifikation gleicher Tonhöhen in einer Tonreihe (s. Bach/Grünhagen)
48. „Partiturpuzzleaufgaben“ (s. Halbach)
49. Aufgaben zur Beurteilung der „Dichte“ von zeitgenössischen Kompositionen
50. Gesangsimprovisationen über Guide Tone Lines
51. „Inneres Hören“ einer Partitur
52. Nutzung des haptischen Gedächtnisses durch „Begreifen“ des Gehörten
53. Melodieimprovisation über eine festgelegte Akkordfolge
54. Vervollständigung einer „unvollständigen“ Melodie
55. Nachsingen exponierter Lagen
56. Notation bekannter Melodien
57. Extempore-Harmonisation von Melodien
58. Gesangsübungen Dreiklangsbrechungen (s. Kühn)
59. Wahrnehmung der eigenen Assoziationen
60. Emotionale Beurteilung der Musik (s. Sikora S. 410f.)
61. Oktaviertes Nachsingen eines Melodieabschnittes
Anmerkungen
1. Grundsätzlich geht es hierbei um die Differenzierung
der Fähigkeit, eine Verbindung von auditiv-nonverbalen mit
visuell-verbalen musikalischen Gegebenheiten herzustellen. Dabei sind zwischen
diesen Polen folgende Relationen denkbar: Zunächst sollte -
ausgehend vom akustischen Ereignis - eine visuell-verbale Vorstellung
entwickelt werden. Zweitens sollte vom visuell-verbal Gegebenen aus eine
differenzierte Vorstellung des akustischen Ereignisses entwickelt werden. Das
schließt drittens auch die Erfahrung der Grenze mit ein, an der es unmöglich
wird, sämtliche Details des nonverbalen Kunstwerkes in verbale oder
visuelle Medien zu übertragen. (zurück)
2. Wenn beispielsweise
Komponisten davon ausgehen, dass ihre Tonhöhenstrukturen in ihrer
intervallischen Komplexität nachempfunden sollen - Schönberg ging
bekanntlich davon aus, daß es zur adäquaten Rezeption seiner Werke
gehöre, daß der verstehende Hörer seine Melodien nachpfeifen
kann - wird man wohl um diese Anstrengung nicht umhin können. Anders
liegen die Dinge bei John Cage, dessen intensionslose Werke sicher nicht durch
Strukturanalyse zu erschließen sind. Anders wieder Kunstschaffende, die
sich der graphischen Notation bedienen oder solche, die jenseits des
Werkbegriffs anzusiedeln sind.(zurück)
3. Bei sämtlichen
hier vorgestellten Methoden stellen die begrenzten Kapazitäten der vokalen
oder instrumentalen Darstellung und die des Kurzzeitgedächtnisses, die
allenfalls durch informationsreduzierende Transformation oder das Prinzip des
chunking zu Näherungswerten kommen können, natürliche Grenzen
dar.(zurück)
4. Bernhard Sekles bringt beispielsweise in seinem Übungsbuch zum Musikdiktat ausschließlich 900 viertaktige tonale Melodien in einer nahezu perfekt systematisierten Weise. Die umfangreiche französische Literatur geht in der Regel von 16-taktigen Modelle aus, welche recht schematisch in zweitaktigen Abschnitten diktiert werden sollen. (zurück)