Improvisation im Kontext oraler europäischer und außereuropäischer Kulturen

Vortrag beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Musiktheorie in Köln 14.-17.10.2004

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Vorbemerkung: Zu diesem Vortrag existiert lediglich das nachfolgende Abstract, da er als freie Rede vorgetragen wurde.

Die Geschichte der Performanceforschung hat gezeigt, dass sich Musikausübung, die auf schriftlicher Aufzeichnung basiert, in struktureller Hinsicht u.U. grundlegend von sogenannter "Nichtschriftlicher Musik" (Lug) unterscheiden kann.

Dies zeigen z. B. die Diskussionen um die 1752 fertiggestellte "Fantasiermaschine"(Schleuning), bei der es mit Hilfe einer in ein Cembalo eingebauten Mechanik möglich wurde, eine extempore gespielte Phantasie in ihrem zuvor nicht exakt notierbaren Zeitablauf auf eine Papierrolle aufzuzeichnen. In diesem Zusammenhang zeigte sich ein Widerwille mancher improvisierenden Künstler gegen die Aufzeichnung ihrer Darbietung.

Auch Musikethnologen sprechen von Begegnungen mit Musikern, die beispielsweise größte Widerstände äußern gegen die Methode, ein musikalisches Element aus dem Zusammenhang einer religiösen Zeremonie zu reißen und als Aufzeichnung zu konservieren. Offensichtlich basiert deren nur in ihrem Kontext sinnvollen "Kunst ohne Werk" (Bailey) auf anderen ästhetischen Prinzipien als kulturelle Konzepte, deren Grundlage eine auch jenseits des Kontextes verwendeten "Heiligen Schrift" bildet.

Die Fixierung auf das Schriftprinzip hat sich in der Musik historisch entwickelt bis zur vollkommenen Determinierung im 20. Jahrhundert, die in früheren Zeiten nicht in dieser Ausschließlichkeit vorhanden war. Herbert Schramowski hat in seiner grundlegenden Arbeit zur Improvisation an vielen Beispielen zeigen können, dass die (oftmals religiös-) inspirierte Gegenwart insbesondere im Schaffensprozess der Romantik einen hohen Rang einnahm. Es wäre demzufolge ein Missverständnis unseres visuellen Zeitalters, die Phantasierkunst von bedeutenden Komponisten der Romantik lediglich als Vorform des fixierten Werkes zu begreifen, denn die improvisierte Phantasie hatte im Konzertleben des 19. Jahrhundert noch ihre eigene Ästhetik. Liszt schrieb, dies sei "eine Art zu improvisieren, welche zwischen dem Publikum und dem Künstler die unmittelbarste (!) Beziehung (!) herstellt."

Sofern Musik als Klangrede verstanden wird, liegt der Vergleich zur freien Rede nahe und ermöglicht vergleichende Studien. Die Dialogsituation mit den anwesenden Rezipienten und deren aktuelle Rezeptionssituation bei einer freien Rede beeinflußt den kreativen Prozess in weit stärkerem Maße als das Ablesen eines Vortrags.

Folglich muss zur Erfassung des Wesens der Improvisation der bisher in der Musiktheorie übliche Diskurs über Improvisation erheblich erweitert werden. Orale Kulturen, in denen das Wissen mündlich überliefert wird, "funktionieren" völlig anderes als Schriftkulturen, die "das Wort technologisieren". (Ong). Schriftkulturen entwickeln andere Rechtssysteme, deren Dichter entwickeln strukturell andere Geschichten als frei vortragende Erzähler. Letztlich haben auch die heute in der kognitiven Musikpsychologie beschriebenen unterschiedlichen Gedächtnisfunktionen einen Einfluß auf die Struktur des Vortrags. Die Tatsache, dass in oralen Kulturen "mit jedem Greis eine Bibliothek stirbt" (Assmann/Klaffke), kann als kultureller Verlust betrachtet werden. Man sollte aber auch die Chancen der Erneuerung sehen, bei der jede Generation die "Geschichten" neu erzählen kann in einer Sprache, die sich der veränderten Situation anpasst.

Die Reflektionen über die Spezifika der schriflosen Kunst führen zu einem Verständnis eines Zitates von Sokrates, den Plato in Phaidros 274c-278b sagen läßt: "Wer denkt, er könne seine Kunst in Geschriebenem hinterlassen, und wer es aufnimmt mit der Meinung, etwas Klares und Zuverlässiges sei aus dem Geschriebenen zu entnehmen, der ist von reichlicher Einfalt belastet..."

Nur wenn Improvisation in dem breiten Kontaxt der oralen Kulturen gesehen wird, kann es der Musiktheorie und der Musikpädagogik gelingen, deren besondere Qualitäten und eigenen Gesetzlichkeiten neu zu entdecken.