Vom Einfluss der Improvisation auf das Musikleben des 19. Jahrhunderts
Vortrag im Rahmen des Romantik-Projektes/Prof. Dr. Wolfgang Rüdiger an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf
Dieser Text ist ein Vortrags-Manuskript, welches nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Veröffentlichung hat.
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2.
Positionsbestimmung
der Improvisation
3. Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Thema Improvisation
4. Improvisation im Vorfeld der Romantik bei Haydn und Beethoven
5. Carl Czerny und sein Einfluss auf Hummel, Wieck, Robert und Clara Schumann und Liszt
6.
Weitere Literaturhinweise für die Improvisationspraxis des 19.
Jahrhunderts
7. Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts
8. Musiktheorie und Improvisation / Lied- und Choralbegleitung
Am Ende des Magnifikats
heißt es: "Sicut locutus est ad patres nostros". Nicht nur zu
biblischen Zeiten war es üblich, die von den Vätern überlieferten Geschichten weiterzuerzählen. Es gab einen gesellschaftlichen Konsens, auf diese Weise historische Wahrheit zu schaffen. Demzufolge müsste ich bei meinem Vortrag über Improvisation berichten, wie mein Vater und der im 19. Jahrhundert geborene Großvater weit jenseits akademischer Einflüsse improvisiert haben. Das wäre sicher in meinem Falle sehr eindrucksvoll, aber ich unterstelle einmal, dass Sie sich auf einen solchen "unwissenschaftlichen" Vortrag nicht einlassen möchten. Ich denke auch, dass Sie eine solche Methode wahrscheinlich - ausgehend von dem heutigen Verständnis von Geschichtsschreibung - in historischer HInsicht als wenig bedeutsam empfinden würden .Von einer solchen durch die eigenen Vorfahren bezeugten Geschichtsschreibung wären Sie sicher enttäuscht?
Wenn Sie mich nach der musikalischen Improvisation im 19. Jahrhundert fragen, würde ich rein gefühlsmäßig sagen: ja natürlich, da wurde sehr viel improvisiert!
Allerdings weiß
ich auch nicht, ob Sie gekommen sind, um sich meine
gefühlsmäßigen Einschätzungen anzuhören. Also was
kann ich tun, um Sie nicht allzu sehr zu enttäuschen? Als Alternative
zu singulären Privatgeschichten und gefühlsmäßigen
Vermutungen werde ich Ihnen im Hauptteil meines Vortrages Zitate und Belege
zu der Praxis der bekannteren Komponisten vorstellen - und damit eine Musikpraxis
aufzeigen, die ich von meinen eigenen Vorfahren sowieso schon
kenne.
Die Improvisation
ist in unserem heutigen - zu einem großen Maße von der
Musikwissenschaft geprägten - Musikleben oft sehr kritisch bewertet
worden, so z.B. von Carl Dahlhaus, der in einem Aufsatz gegen die
improvisierenden Musiker polemisiert:
"Nüchtern
analysiert, beruht Improvisation fast immer zu einem großen Teil auf
Formeln, Kunstgriffen und Modellen,... Den Umriß oder die Gelenkstellen
... zuvor in Gedanken zu skizzieren, dürfte eher die Norm als die Ausnahme
sein ... . Der Improvisierende muß sich ... auf ein jederzeit
verfügbares Repertoire von Klischees stützen können, ... der
Schein von Spontaneität gehört zu der Rolle, die der Improvisierende
spielt,... von Täuschung zu reden wäre kunstfremder Rigorismus....
Improvisation stützt sich demnach, hinter dem ästhetischen
Schein von
Unmittelbarkeit, partiell auf Formeln, Gewohnheiten und Normen. ... Man
könnte ... behaupten, daß Neuheit primär ein Prinzip der
Komposition sei, während Improvisation, die ohne einen Vorrat von Formeln
und Modellen kaum zu bestehen vermag, zum Traditionalismus tendiere. Jedenfalls
braucht sie einen Rückhalt: verfügbare melodische Wendungen, einen
tragenden Baß, ein Harmonieschema, das sie paraphrasiert, oder ein
zu entwickelndes
Thema."[1]
Dahlhaus konstatiert
weiter, dass die Alternativen der Improvisation entweder ein regressiver
Traditionalismus oder eine Neigung zum "amorphen Getöse" seien.
Irgend etwas scheint die abendländischen Gemüter beim Thema Improvisation zu erhitzen und es würde zu einigen Widersprüchen führen, die Worte von Dahlhaus auf die "großen Meister" anzuwenden. Wir würden von ihnen nicht erwarten, dass sie uns täuschen durch den "ästhetischen Schein von Unmittelbarkeit" oder dass sie uns das Abspulen von "Formeln, Gewohnheiten und Normen" als große Kunst vorgaukeln wollen. Wir wohl kaum Bach oder Beethoven das Attribut "amorphes Getöse" oder klischeehaftes Spiel zuschreiben.
Beim Thema
Improvisation stellt sich bei Musikwissenschaftlern und Interpreten oft ein
Gefühl der Hilflosigkeit oder der Peinlichkeit ein.
Die Hilflosigkeit
ist mir bei der Vorbereitung zum diesem Thema bei Gesprächen mit
Musikwissenschaftlern begegnet: Es gäbe da ja immerhin einige Werke
von Reger u.a. , die mit "Improvisation" oder "Fantasie" betitelt seien,
und zweifellos habe das Thema in der Musikgeschichte eine sehr große
Bedeutung. Aber die Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Thema ist aber doch
letztlich nicht zu eliminieren, denn das Problem einer dürftigen Quellenlage
ist außerhalb der Existenz von Aufzeichnungsmöglichkeiten von
Improvisationen nicht zu lösen. Ein überwiegend philologisch
ausgerichtetes Kultursystem gerät hier an seine Grenzen. Aber stellen
wir Musikgeschichte wirklich adäquat dar durch einseitige Fokussierung
auf schriftliche Zeugnisse und Verbannung der Thematik Improvisation in den
Bereich "Sonstige Themen"? Offensichtlich ist eine
christlich-abendländische orale Kultur jenseits der Schriftkultur nicht
vorstellbar?
Eins kann zumindest
aus den Quellen, die heute gebührend zu Wort kommen sollen, beweisen
werden: Musik hat zwar eine große schriftliche Tradition, aber - in
weit höherem Maße als man es heute wahrhaben will - auch seine
orale Tradition in Form von nicht schriftlich fixierter Spielpraxis. Diese
bestimmte das Musikleben ganz wesentlich. Dass Improvisation ganz wesentlicher
Bestandteil der Musikgeschichte war, ist unbestritten. So schreibt der
Musikwissenschaftler E.T. Ferand:
".. es gab kaum
ein einziges Gebiet der Musik, das von der Improvisation unberührt
geblieben, kaum eine einzige musikalische Technik oder Kompositionsform,
die nicht der improvisatorischen Musikübung entsprungen oder von ihr
wesentlich beeinflußt worden
wäre."
[2]
Bei Gesprächen
von "ernsthaften" Jazzmusikern mit Interpreten der "ernsten" Musik können
interessante Beobachtungen gemacht werden: Das Thema Improvisation wird von
E-Musikern gerne mit großer Zurückhaltung angegangen. "Das könne
man selber nicht, aber man bewundere alle, die es könnten...etc."
Sowohl Kompositions-
als auch Improvisationsversuche, und seien sie auch noch so unvollkommen
(!), tragen - wie Schönberg zu resümieren weiß - am besten
dazu bei, innere Klangvorstellungen umzusetzen und zu entwickeln; andererseits
wird derjenige, der innere Klangvorstellungen hat, den Wunsch haben, diese
umzusetzen[4].
Schönberg schreibt, "Komponieren ist eine Art verlangsamte Improvisation; Oft kann man nicht schnell genug schreiben, um mit dem Strom der Gedanken Schritt zu halten."[5]
An andere
Stelle[6] schreibt
Schönberg:
"Das Verdienst einer Improvisation liegt mehr in ihrer inspirierten
Unmittelbarkeit und Lebendigkeit als in ihrer Ausarbeitung.
Selbstverständlich liegt der Unterschied zwischen einer komponierten
und improvisierten Komposition im Tempo der Produktion, eine relativen
Angelegenheit. So kann unter günstigsten Umständen eine Improvisation
die gründliche Ausführung einer sorgfältig durchgearbeiteten
Komposition besitzen. Im allgemeinen wird sie aber ihren Vorwurf mehr durch
Anwendung von Phantasie und Gefühl als von strikt intellektuellen
Fähigkeiten verfolgen. Eine Fülle von Themen und kontrastierenden
Gedanken
werden ihre volle Wirkung durch reiche Modulation, oft zu entfernten Regionen,
ausüben. (Fußnote: Aber warum soll das Gehirn eines Musikers
nicht ebenso schnell und gründlich arbeiten wie das eines Rechen- oder
Schachgenies?) "
Am Anfang des 19.
Jahrhunderts sind uns Zeugnisse eines Musiklebens in zeitgenössischen
Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Konzertprogrammen, Konzertkritiken und sonstigen
zeitgenössischen Berichten überliefert, aus denen hervorgeht, dass
auf allen Ebenen improvisiert wurde.
Schon Haydn
verschmähte die Inspiration aus dem realen Klang keineswegs. Der
zeitgenössische Biograph Albert Christoph Dies berichtet: Sofort nach
dem Frühstück "setzte er sich ans Klavier und phantasierte so lange,
bis er eine seiner Absicht dienende Gedanken fand, die er sogleich zu Papier
brachte."[7]
Der
Musikwissenschaftler Helmut Aloysius Löw stellt in seiner
Dissertation[8] die wichtigsten Quellen
zur Improvisation Beethovens nach eigenen Aufzeichnungen und den Berichten
der Zeitgenossen zusammen, deren wesentliche Aussagen im folgenden
zusammengefasst werden.
So der Bericht
von Anton
Reicha[9] :
" L.v. Beethoven
... führte auf dem Fortepiano improvisierte Fantasien aus, welche in
ihrer Entstehung stets noch weit mehr Erfolg und Bewunderer hatten als seine
wirklichen Kompositionen. Er versicherte uns einst, ungefähr
fünfundzwanzig Jahre vor seinem Tode, in einem Anfall von Laune, daß
er den Entschluß gefaßt habe, von nun an so zu komponieren wie
er fantasiere, das heißt, alles sogleich und unverändert zu Papier
zu bringen, was seine Einbildungskraft ihm Gutes eingäbe, ohne sich
um das Übrige zu kümmern. Man kann aber nicht sagen, daß
er dieses Versprechen erfüllt hätte.
..."[10]
Einige
Skizzenblätter können als Vorbereitung zur Improvisation angesehen
werden. Z.B. findet sich hier die Eintragung Beethovens: "Man fantasirt
eigentlich nur, wenn man gar nicht acht / giebt was man spielt, so - würde
man / auch am besten, wahrsten fantasiren öffentlich - / sich ungezwungen
überlassen, eben was einem
gefällt."[11] Die Skizzen von 1808
zeigen, dass eine häusliche Vorbereitung auf das öffentliche
Improvisieren nachzuweisen ist.
"Tatsächlich
hat die Improvisation für Beethoven manchmal die Bedeutung einer Vorstudie
gehabt. So ist von Ferdinand Ries bezeugt, daß der Meister sich nach
einem Spaziergange, bei welchem ihm das Thema zum Finale der Appassionata
eingefallen war, zuhause gleich ans Klavier setzte und 'wenigstens eine Stunde
lang über das neue , so schön dastehende Finale dieser Sonate'
improvisierte."[12]
Friedrich Treitschke,
der Textdichter des Fidelio berichtet: Beethoven "las , lief im Zimmer auf
und ab, murmelte, brummte, wie er gewöhnlich statt zu singen tat, und
riß das Fortepiano auf...., legte er den Text vor sich und begann
wunderbare Phantasien, die aber leider kein zaubermittel festhalten konnte.
Aus ihnen schien er das Motiv der Arie zu beschwören. Die Stunden schwanden,
aber Beethoven phantasierte fort... Tags drauf war das treffliche
Musikstück
fertig."[13]
Es sind viele
Anlässe und Konzerte bezeugt, bei denen Beethoven Fantasien
und Variationen improvisiert hat. Z. B spielte er "in Aschaffenburg
vor Sterkel seine Variationen über 'Vieni amore' von Righini. .../...
Opernthemen aus dem Stegreif zu variieren war in öffentlichen Konzerten
eine häufig anzutreffende Erscheinung." Beethoven improvisiert manchmal
über zwei Stunden
lang.[14]
Ein schönes
Beispiel, für die Wirkungen, die Beethovens unbändige Kraft und
Genialität bei anderen hervorrief, liefert auch Carl Czernys Bericht
über Beethovens Zweikampf mit dem Kritiker Gelinek:
Ich erinnere mich
noch jetzt, als eines Tages Gelinek meinem Vater erzählte, er sey für
den Abend in eine Gesellschaft gebeten, wo er mit einem fremden Clavieristen
eine Lanze brechen sollte. "Den wollen wir zusammenhauen", fügte Gelinek
hinzu. Den folgenden Tag fragte mein Vater den Gelinek, wie der gestrige
Kampf ausgefallen sey? "O!"- sagte Gelinek ganz niedergeschlagen, "an den
gestrigen Tag werde ich denken! In dem jungen Menschen steckt der Satan.
Nie habe ich so spielen gehört! Er fantasiert auf ein von mir gegebenes
Thema, wie ich selbst Mozart nicht fantasieren gehört habe. Dann spielte
er eigene Compositionen, die im höchsten Grade wunderbar und großartig
sind, und er bringt auf dem Clavier Schwierigkeiten und Effekte hervor, von
denen wir uns nie haben etwas träumen lassen." -"Ey", sagte mein Vater,
"wie heißt dieser Mensch?" - "Er ist", antwortete Gelinek, "in kleiner,
häßlicher, schwarz und störrisch aussehender junger Mann,
den der Fürst Lichnowsky vor einigen Jahren aus Deutschland hierhergebracht,
um ihn bey Haydn, Albrechtsberger und Salieri die Composition lernen zu lassen,
und er heißt
Beethoven..."[15]
Überliefert
ist auch der
Improvisationswettstreit[16] mit dem Organisten Abbe
Vogler aus dem Jahre 1803.
Während seiner
Lehrjahre bei Beethoven und in der Folgezeit hatte Czerny vielfach Gelegenheit,
den bewunderten Meister fantasieren zu hören. Ähnlich wie viele
seiner Zeitgenossen erlebte er die Fantasierkunst Beethovens, der gewiss
auch von C. P. E. Bachs gedruckten Fantasien Anregungen empfangen hatte,
als einzigartig und überwältigend. In Erinnerungen an Beethoven
aus den fünfziger Jahren schreibt Czerny
darüber:
"Hinsichtlich seiner
Brillanz und der genialen Freizügigkeit des Spiels kam ihm damals niemand
gleich, und selbst heute kann niemand außer Franz Liszt mit ihm verglichen
werden. Seine Improvisation war höchst glanzvoll und packend:
gleichgültig in welcher Gesellschaft er sich gerade befand, verstand
er es, eine solche Wirkung auf jeden Hörer hervorzubringen, daß
häufig genug keine Auge trocken blieb, manch einer aber in lautes Schluchzen
ausbrach. So etwas Wunderbares war in seinem Ausdruck, abgesehen von der
Schönheit und Originalität seiner Ideen und seines feurigen Stils,
sie wiederzugeben. Wenn er eine Improvisation dieser Art beendet hatte, brach
er meist in ein lautes Gelächter aus und machte sich über die
Gemütsbewegung der Hörer lustig, die er ihnen verursacht hatte
..."
"Manchmal wählte
er die belanglosesten und plattesten Stellen zum Improvisieren. Im Jahre
1808 oder 1809 kam der alte Pleyel nach Wien und brachte sein neustes
Streichquartett mit, welches er vor dem Prinzen Lobkowitz aufführte.
Beethoven war auch da und wurde schließlich gebeten, etwas zu spielen.
Wie gewöhnlich ließ er sich lange bitten und sich endlich von
den Damen ans Klavier zerren. Er wird zornig, ergreift eine der Stimmen von
Pleyels Quartett - zufällig war es die der 2. Violine - wirft sie beliebig
geöffnet aufs Pult und beginnt zu improvisieren. Niemals hatte man von
ihm so Geistvolles, so Bezauberndes, so kunstreiches gehört: aber in
der Mitte seiner Phantasie konnte man deutlich eine belanglosen Lauf aus
der Violinstimme hören, wie sie zufällig da lag. Er hatte seine
ganze Improvisation auf diesem Lauf
aufgebaut."[17]
Beethovens
Fantasierkunst wurde auch unmittelbar in Czernys Schülerkreis
wirksam:
"In jener Zeit
(um 1816) begann ich in meiner Wohnung für meine sehr zahlreichen
Schüler jeden Sonntag musikalische Unterhaltungen vor einem sehr
gewählten Zirkel zu veranstalten, welche durch mehrere Jahre fortgesetzt
wurden. Beethoven war fast immer zugegen und mehrmal phantasierte er in denselben
mit freundlicher Bereitwilligkeit und mit all dem Ideenreichtum, der seine
Improvisationen ebensosehr, ja oft noch mehr auszeichnete als seine
Der
Beethovenschüler Carl Czerny ist in mehrfacher Hinsicht
bezüglich unseres Themas eine Zentralfigur. Er trug das Erbe Beethovens
in vielfacher Weise weiter. Er beeinflusste Johann Nepomuk Hummel, Friedrich
Wieck und den Schumann-Kreis und beeinflusste last not least seinen Schüler
Franz Liszt. Wir wollen diese
Entwicklungen kurz umreißen.
Als Quelle ersten
Ranges gilt Czernys Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte
op. 200 (ca. 1829). Er setzt die Tradition der Lehrwerke fort, in denen das
Fantasieren eine bedeutende Rolle spielt, z.B. in C.Ph.E. Bachs 2. Teil seines
Versuchs über die wahre Art das Clavier zu spielen (1753/62), in welchem
das 41. Capitel "Von der freyen Fantasie"
handelt.
Czerny bringt mit
der in seinem Lehrbuch geäußerten Auffassung, dass die Ausbildung
in der Improvisation "für den Clavier-Spieler eine besondere Pflicht
und Zierde" sei, eine
Selbstverständlichkeit der Frühromantik zum Ausdruck. Auch
sei es die Pflicht des Klavieristen, neben dem Studium der Harmonielehre,
alles Gute und Große der Meister und die musikalischen Tagesneuigkeiten
inklusive der Volksliedmelodien (s. Kapitel 4.1 bzw. 6.3) im Gedächtnis
zu haben. Sein Lehrwerk teilt er ein in
Vorübungen (Preludien,
Introduktionen, Cadenzen) und selbständige Fantasien. Letztere untergliedern
sich in
Der Kern seines Lehrbuchs besteht - neben kurzen Anmerkungen - aus 51 Beispielen, die z. B. bei seinen 32 Variationen nur als Anfangsfragmente gegeben sind. Er ergänzt diese durch Hinweise auf geeignete Musikliteratur. Die in diesen Beispielen enthaltenen kompositorischen Gedanken zu lesen, wäre eine zentrale Aufgabe, die allerdings den Rahmen dieser Vortrags sprengen würde. Er betont mehrfach, dass die Studierenden die Beispiele in allen Tonarten spielen müssen. Für die Ausbildung der Studierenden fordert er außerdem, dass sie in der Lage sind, ein gegebenes Thema nach den "üblichen Gattungen" durchzuführen und gibt dazu entsprechende Beispiele:
1.
Allegro
2.
Adagio
3.
Allegretto
grazioso
4.
Scherzo
Presto
5.
Rondo
vivace
6. Polacca
7. Thema zu Variationen
8.
Fuge/Canon
9. Walzer etc..
Er betont, dass sich "die momentane Stimmung des Spielers" in der Freien Fantasie "am ungezwungensten aussprechen" würde und vielleicht sei "keine Form geeigneter, das Bild des inneren Lebens und ästhetischen Sinns in ein großartiges Ganzes zusammen zu stellen und zu entfalten". Bei den Ausführungen über das Potpourri erkennen wir eine ästhetische Position, die wir heute der U-Musik zuschreiben würden: Da der größte Teil des Publikums "nur durch angenehme, bekannte Motive unterhalten" werden wolle, sei es angebracht, "eine sinnreiche und interessante Zusammenstellung solcher Themen, welche beim Publikum bereits beliebt geworden sind" in Form eines Potpourris zu wählen. Dabei habe der Spieler "Rücksicht auf das Publikum, vor welchem er spielt" zu nehmen.
Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass Czerny 1833 einen zweiten Teil dieser Fantasierschule unter dem Titel "Die Kunst des Preludierens ..." mit 120 Beispielen als opus 300 - allerdings im Gegensatz zu opus 200 durchweg unkommentiert - veröffentlichte. Weitere Ausführungen und Beispiele Czernys zum Präludieren finden sich im 18. Kapitel im Band 3. seiner Piano-Forte-Schule op. 500.
Der Herausgeber
Ulrich Mahlert stellt fest, dass Czerny mit seinem Lehrwerk Johann Nepomuk
Hummel dazu veranlasste, in der zweiten Auflage seiner
Klavierschule[19] aus dem Jahre 1838 der
Improvisation einen gewichtigen Raum einzuräumen.
Diese Klavierschule
und seine diesbezüglichen Äußerungen zählen neben Czernys
Lehre zu der gewichtigsten zeitgenössischen Quelle zur Pädagogik
des Fantasierens.
Hummel stellt die
Bedeutung des Fantasierens in einem längeren
Text[20] dar, den ich hier zitieren
möchte.
"Nachdem ich das
so benutzte ich,
während des Tages beschäftigt mit Unterichtgeben und Komponiren
gewöhnlich des Abends, wo ich mich frei, heiter und aufgelegt fühlte,
Ich richtete dabei
meine Aufmerksamkeit vorzüglich auf gute Verbindung und Fortführung
der Ideen, auf strengen Rhythmus, auch bei aller Takt-Mannichfaltigkeit des
Ausdrucks und Charakters, auf abwechselndes Kolorit durch Mannichfaltigkeit
der Vortragsarten, reicheres oder sparsameres Figuriren, Moduliren, Verzieren
u. dgl., und hütete mich besonders auch, dass, wenn mir das Fort- und
Ausspinnen einer Idee gelang, ich mich nicht zu sehr in die Länge und
Breite verlohr - wozu man in solchem Falle, damit aber entweder in
althergebrachte Formen oder in Künsteleien leicht geräth, und so,
bald steif und monoton, bald kleinlich und unverständlich wird.
Dieses mein Phantasiren
versuchte ich nun entweder blos auf meine eigenen Melodien, wie sie mir im
Augenblick zukamen, zu gründen, oder auch irgend ein bekanntes Thema
mit hinein zu verweben. Letzteres wollte ich jedoch weniger variiren, als
es ganz frei aus dem Stegreif in mancherlei Gestalten, Formen, Wendungen,
gebunden oder (nach dem gewöhnlichen Ausdruck) galant bearbeiten und
durchführen.
Nachdem sich somit
allmählig die Fähigkeiten, der Geschmack und die Beurtheilung mehr
ausgebildet und festergestellt hatten, ich mir damit nach einigen Jahren
ruhigen Studiums auf meinem Zimmer eine vollkommene Gewandtheit und eine
Art von Zuversicht in der Sache erworben hatte, und der Mechanismus meiner
Finger das, vom Geiste in demselben Augenblick Eingegebene, sicher und ohne
Schwierigkeit auszuführen vermochte: so versuchte ich, - aber längere
Zeit hindurch nur immer vor wenigen Personen, theils Kennern, theils Nichtkennern
zu phantasiren, und dabei im Stillen zu beobachten, welche Wirkung das
Vorgetragene auf beide Theile meines kleinen, gemischten Publikums machte
- wobei ich weit weniger ihren Worten nach Beendigung, als ihren Mienen und
andern Regungen während des Fortgangs meines Spiels, vertrauete. Obschon
mir nun an der Zufriedenheit der Kenner bei weitem am meisten gelegen sein
musste: so war mir doch auch an der, der Nichtkenner, gelegen; ...
Öffentlich phantasirend hervorzutreten, wagte ich aber durchaus nicht
eher, bis ich nach vielfältigen Erfahrungen in jenen engern Kreisen,
gewiss sein konnte, beiden verschiedenartigen Theilen, .... zu genügen.
Jetzt nun gestehe ich, dass ich - und schon seit beträchtlicher Reihe
von Jahren - auch nicht einen Augenblick verlegen bin, vor jedem Publico,
und bestünde es aus zwei- bis dreitausend Zuhörern, zu phantasiren,
möge man nun vorziehen, dass ich dabei mich meinen eigenen Eingebungen
und Gefühlen allein überlasse, oder mir vorgelegte Themata denselben
zu Grunde lege. Ich fühle mich sogar frischer, freier, unbefangener
und fröhlicher sobald ich mich zu solchem Phantasiren, als wenn ich
mich hinsetze, eine niedergeschriebene Composition, an welche ich mich ja
doch mehr oder weniger knechtisch binden muss, vorzutragen. Dies Letzte
führe ich unbefangen hier an, keineswegs um mich vor meinen und der
Leser Augen herauszustreichen, sondern um Andere aus meinen vielfältigen
Erfahrungen an mir selbst zur Überzeugung von der Wahrheit zu ermuntern
oder darin zu bestärken: dass - die dazu geeigneten Anlagen vorausgesetzt
- Zeit, Geduld und Fleiss an's Ziel geleiten."
"Ich schließe mit einer Empfehlung des freien Phantasirens überhaupt und in jeder achtbaren Form an Alle, denen es nicht blos um Unterhaltung und Geschicklichkeit im Praktischen, sondern auch, ja vornehmlich, um den Geist und Sinn in ihrer Kunst zu thun ist: diese Empfehlung aber ist nie so dringend gewesen, als jetzt, weil es deren, die nur jene, nicht diese beabsichtigen, nie so Viele als jetzt gegeben hat. Selbst wenn man mit Geist immerwährend nur Noten spielt, wird derselbe viel weniger genährt, erweitert und ausgebildet, als durch öfteres, wenn auch nur massig gelingendes, doch mit vollem Bewustsein, Aufbietung aller Kräfte, nach gewisser Richtung und Ordnung geübtes freies Phantasiren. Und welch ein ganz besonderes Mittel der innern Belebung und Stärkung, der Erhebung in gedrückter, der Beruhigung in aufgereizter Gemüthslage, und mithin auch welch ein ganz besonderes Mittel zu einem würdigen, wahrhaft wohlthuenden, erquickenden Genüsse, solch ein freies Phantasiren darbiete - schon dadurch, dass es sich näher, als alles Vorgeschriebene, an des Spielers eigenste Individualität und an sein innerstes Wesen anschliesst, wie dies eben in dieser Stunde beschaffen und gestimmt, wie eben sich auszusprechen ihm Bedürfniss des Geistes und Herzens ist: davon wünsche ich allen meinen Lesern, indem ich von ihnen scheide, vielfältige Erfahrungen an sich selbst, und glaube ihnen in ihrer Kunst nichts Schöneres und Werthvolleres wünschen zu können."
Auch der bedeutende
Klavierpädagoge Friedrich Wieck steht unter dem Einfluss von
Beethoven und Czerny. Er hatte Beethoven noch 1826 improvisieren
gehört.[21]
Die Durcharbeitung
von Czernys Fantasierschule gehörte zu seinem pädagogischem Konzept
wie auch die Prinzipien seines
Anfängerunterricht stark von der Improvisation und dem Spielen nach
Gehör geprägt waren. Dazu gehörte auch die Ausbildung des
Gehörs, Spielen von Übungen, die vom Schüler selbst erfunden
wurden, frühes Transponieren, Kennenlernen der Klangmöglichkeiten
des Klaviers.
Nun zu Robert
Schumann.
"Die
künstlerische Qualität seiner freien Fantasien bestätigt
Töpken, ein Freund des jungen Schumann. Bezugnehmend auf die gemeinsam
verbrachten Stunden während der Heidelberger Studentenzeit berichtet
Töpken: '... Nach der gemeinschaftlichen Unterhaltung folgten dann in
der Regel von seiner Seite freie Phantasien auf dem Klaviere, in denen er
alle Geister entfesselte. Ich gestehe, dass diese unmittelbaren musikalischen
Ergüsse Schumanns mir immer einen Genuß gewährt haben, wie
ich ihn später, so große Künstler ich auch hörte, nie
wieder gehabt. Die Ideen strömten ihm zu in einer Fülle, die sich
nie erschöpfte. Aus einem Gedanken, den er in allen Gestalten erscheinen
ließ, quoll und sprudelte alles andere wie von selbst hervor und hindurch
zog sich der eigentümliche Geist in seiner Tiefe und mit allem Zauber
der Poesie, zugleich schon mit den deutlich erkennbaren Grundzügen seines
musikalischen Wesens, sowohl nach der Seite der energischen urkräftigen,
als auch der duftig zarten, sinnend träumerischen Gedanken.'
"[22]
"Die unbändige
Lust am Improvisieren nahm selbst dann nicht ab, als Schumann sich das Handleiden
zuzog, wie aus dem Jugendbrief vom 19.3.1834 zu ersehen ist: 'Beim Phantasieren
stört es mich nicht. Es hat sich sogar ein alter Muth, vor Leuten zu
phantasieren eingestellt.' Lange bevor es zum Theorieunterricht kam, versuchte
der junge Schumann, u.a. auf improvisatorischem Wege, das Reich der Töne
zu erobern. Zwar empfand er anfänglich den Mangel an ausreichendem Wissen
in den theoretischen Disziplinen, den er dann bald auszugleichen sich anschickte,
andererseits schwärmte er von dem Glücklichsein bei seinen
täglichen Fantasien am Instrument, wie aus den Tagebuchaufzeichnungen
und Briefen
hervorgeht."[23]
"Die Befürchtung,
bei vorwiegend improvisatorischem Schaffen wertvolles Gedankengut für
die endgültige kompositorische Gestaltwerdung zu verlieren, war der
Anlaß, weshalb Schumann im Brief aus Wien vom 3.12.1838 Clara riet,
nicht zu viel zu fanatisieren, weil zu viel ungenutzt abströme, was
man besser anwenden könne. Sie möge sich immer vornehmen, alles
gleich auf das Papier zu
bringen."[24]
Aber Clara
Schumann scheint sich an diesen Rat nur bedingt gehalten zu haben, denn
noch im Oktober 1895 schreibt sie in ihr Tagebuch: "Gern schrieb ich mal
meine Präludien, die ich immer vor den Tonleitern mache, auf, aber es
ist so schwer, weil ich sie immer wieder anders mache, wie es mir eben gerade
am Clavier
einfällt."[25]
Auf Bitten ihrer
Kinder schrieb sie doch eine Anzahl Präludien in dieser Zeit
auf.
So berichtet Marie
Schumann im Februar 1929: "In ihrem letzten Lebensjahre schrieb unsere Mutter
auf unser Bitten die Uebungen nieder, wie sie sie in ihre Tonleitern, mit
denen sie täglich ihr Studium begann, einflocht, sowie einige Vorspiele,
wie sie sie vor den Stücken zu improvisieren pflegte, ganz frei von
dem Moment hingegeben; auch öffentlich tat sie dies u. man konnte aus
der Art wie ihr die Harmonien zuströmten, ermessen wie sie disponiert
war. Nun meinte sie zwar, es sei ihr nicht möglich diese Art von freien
Phantasien festzuhalten, doch gab sie endlich unsere Bitten nach und so
entstanden diese kleinen
Vorspiele."[26]
Die Autorin Claudia
de Vries fast ihre diesbezüglichen Forschungen über Clara Schumann
zusammen: "1831 erarbeitete sie unter Wiecks Leitung Czernys Anleitung zum
Fantasieren auf dem Pianoforte. Auf Clara Wiecks frühesten Konzertprogrammen
fehlte nie eine Improvisation über ein bekanntes
Thema..."[27]
Claudia
de Vries zitiert weiterhin die Berichte der Schwester Claras, Marie Wieck,
die auch ein allgemeines Bild von der Bedeutung der Improvisation im Konzertleben
des 19. Jahrhunderts gibt:
"Klara spielte
vor den Stücken nur einige schöne Akkorde, Bülow und andere
dagegen fanatisierten nicht nur über das kommende Stück, sondern
auch noch nachträglich über das vorangegangene, sodaß sie
immer sehr lange aus dem Präludieren gar nicht heraus
kamen."[28]
Ich habe dem
Namensgeber unserer Hochschule und dessen Umfeld aus der Vielzahl der Komponisten
naturgemäß einen besonderen Raum innerhalb dieses Vortrag
eingeräumt. Allerdings stellt gerade Schumann für die
Improvisationsgeschichte ein Problem dar. Er schreibt in seinen 1854 erschienen
"Musikalischen Haus- und Lebensregeln": "Verlieh dir der Himmel eine rege
Phantasie, so wirst du in einsamen Stunden wohl oft wie festgebannt am
Flügel sitzen, in Harmonien dein Inneres aussprechen wollen, und um
so geheimnisvoller wirst du dich wie in magische Kreise gezogen fühlen,
je unklarer dir vielleicht das Harmonienreich noch ist. Der Jugend
glücklichste Stunden sind diese. Hüte dich indessen, dich zu oft
einem Talente hinzugeben, das Kraft und Zeit gleichsam an Schattenbilder
zu verschwenden dich verleitet. Die Beherrschung der Form, die Kraft klarer
Gestaltung gewinnst du nur durch das feste Zeichen der Schrift. Schreibe
also mehr, als du
phantasirst."[29]
Inwiefern diese
Äußerung und das oben genannte Briefzitat an Clara soweit
verallgemeinert werden dürfen, dass sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts
bezüglich des Fantasierens eine krasser Wandel vollzog, ist fraglich.
Richtig ist vielmehr, dass es eine Tendenz gab, von der Improvisation immer
mehr abzurücken, ist unstrittig.
So hatte beispielsweise
neben der frühen Traditionslinie Beethoven-Czerny-Wieck-Schumann auch
noch der spätromatische Czerny-Schüler Franz Liszt große
Bedeutung:
Selbstverständlich war die Improvisation Bestandteil seiner öffentlichen oder privaten Konzerte und zwar schon während der Knabenzeit wie aus Programmen[30] ersichtlich ist.
Bekannt ist auch Liszts Improvisation in Anwesenheit Beethovens vom 13.4.1823. Aus den Konversationsheften Beethovens geht hervor, dass der Zwölfjährige diese Improvisation über ein von Beethoven erbetenes Thema als wörtlich verstandenes Extempore-Spiel verstanden haben wollte, denn dort ist zu lesen: "Er will es aber versiegelt erst dort eröffnen."[31] Die Augsburger Allgemeine Zeitung schrieb am 17.10.1823 über die Improvisation Liszts: "Was aber die Bewunderung dabei auf den höchsten Gipfel trieb, war eine Improvisation über gegebene Themas. Der junge Liszt hatte schon auf dem Anschlagzettel gebeten, daß das Publikum die Güte haben möchte, ihm die Motive aufzugeben; und man gab ihm das Thema der Variationen, die Molique in dem Koncert von Moschels gespielt hatte, sowie die Melodie 'God save the King'. Der Knabe nahm zuerst das Thema von Molique und variierte es mit einer solchen Kunst, daß man eine vollständige (!) Komposition (!) zu hören glaubte. Dasselbe that er dann mit dem zweiten Thema, welches er später mit dem ersten vereinigte und auf die genialste Weise ineinander verflocht und verschmolz. Man darf sich deshalb nicht wundern, daß das zahlreiche und entzückte Publikum seinen Beifallsbezeugungen kaum Grenzen zu setzen wußte."
Von den Konzerten in Paris (1824) und in England (1824/25) wird ähnliches berichtet und es ist ersichtlich, dass auf die Improvisation bei Konzerten auch hier niemals verzichtet wurde. Insbesondere legte man in England großen Wert auf die Improvisationskunst eines Künstlers.[32]
Liszt äußerst sich in einem Brief vom April und Mai 1838 an Massard über die künstlerisch-kommunikative Bedeutung der Improvisation: Eine Improvisation über die vom Publikum vorgeschlagenen Themen sei "eine Art zu improvisieren, welche zwischen Publikum und Künstler die unmittelbarsten (!) Beziehungen (!) herstellt... Jeder ist begierig zu hören, was der Künstler aus dem ihm gegebenen Thema machen werde. So oft es in einer neuen Form erscheint, freut sich der Geber der guten Wirkung, (die er hervorruft) wie über eine Sache, die er persönlich beigetragen. So entsteht denn eine gemeinschaftliche Arbeit, eine Cisilierarbeit, mit welcher der Künstler die ihm anvertrauten Juwelen umgiebt."
Die Aussagen
der Biographin Lina Ramann zu Liszt sind
insofern als authentisch zu bewerten, als dass sie durch Liszt autorisiert
sind. Sie berichtet, dass es zur Zeit Liszts viele Improvisatoren gegeben
habe, aber nur Liszt das
"Urbild"[33] des echten Improvisators
verkörperte und begründet dies ausführlich. Über den
jungen Liszt schreibt Ramann: "Er spielte nach dem Gehör,... er suchte..
nach seinen 'Klängen', wie er die selbst erfundenen Harmonien und
Modulationen nannte, auch fing er an, über Melodien in freien Phantasien
sich zu ergehen."
"Zu improvisieren
- dieses freie Aussprechen seiner selbst -war ihm von seinen Kinderjahren
an immer das liebste
gewesen.."[34]
R.
Kokais[35] führt aus, dass
das "Unfertige" des Kunstwerks für Liszt und für die gesamte
romantische Epoche charakteristisch sei.
Dies zeigt auch
der Bericht Borodins aus dem Jahre 1877, der hinsichtlich der Texttreue
aufschlussreich ist: "Spielt Liszt etwas durch, so fängt er manchmal
an, Eigenes hinzuzusetzen, und so entsteht allmählich unter seinen
Händen nicht das betreffende Stück selbst, sondern eine
Improvisation darüber - eine jener glänzenden Transkriptionen,
die seinen Ruhm als improvisierenden Klavierspieler in die ganze Welt getragen
haben."[36]
Weitere unzählige
Belege für die Improvisationspraxis im 19. Jahrhundert ließen
sich zu den Komponisten und Improvisationskünstlern Mendelsohn-Bartholdy,
Chopin, Tschaikowsky, Bruckner, Franck, Reger und viele weitere Komponisten
und selbstverständlich auch Interpreten anführen. Wesentliche Quellen
dazu sind vorbildlich in der Arbeit von Herbert
Schramowski[37]
zusammengetragen.
Auch die
Einführung Ulrich
Mahlets[38] von Carl Czerny Anleitung
stellt Improvisationspraxis
dieser Zeit hervorragend dar. Egidius
Doll[39] hat wertvolle Quellen
aus den zeitgenössischen Lehrbüchern zusammengetragen. Auch seine
Einleitung kann als eine qualifizierte Zusammenfassung der Thematik betrachtet
werden.
Für eine adäquate Aufführungspraxis der Musik des 19. Jahrhunderts - vor allem der ersten Hälfte - ist es demzufolge unabdingbar, Werke nicht einfach beziehungslos nebeneinander zu stellen, sondern durch geschickte improvisierte Überleitungen miteinander zu verbinden, auf dass nicht Stimmung und Tonarten zusammentreffen, die weit voneinander entfernt sind. Mit einer derartigen Praxis und eventueller zusätzlicher Fantasien über freie Themen wird dem Ideal dieser Zeit gehuldigt, denn ein "musicus" solle nach der Ästhetik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts "die Tätigkeiten des Vortragens , des Komponierens und des Fantasierens in sich vereinigen."[40]
Mir ist durchaus bewusst, dass die Umsetzung dieser Forderung eine Revolution des Ausbildungswesens bedeuten würde. Scharf formuliert: Virtuosen, die nicht improvisieren können, müssten für die Musik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als inkompetent bezeichnet werden. Unser Hochschulwesen hat aber diesen historisch zweifellos wichtigen Zweig der Musikausübung abgeschnitten und wird damit der Annäherung an die Aufführungspraxis nicht gerecht.
Die Konzertkultur
war ganz wesentlich durch die Improvisation geprägt. Das bezog sich
aber nicht nur auf die Werkentstehung, sondern auch auf deren
Aufführungspraktiken:
Insbesondere der
Kooperationsverbund des "Niederrheinischen Musikfestes", welches ab 1827
jährlich wechselnd in Düsseldorf, Köln und Aachen stattfand,
gibt Aufschluss über das damalige Musikleben: Die Programme, die
Diskussionen über den Anteil der mitwirkenden Laien, der Ruf nach
größerer Professionalität und die daraus resultierende
Aufführungspraxis: Vieles mutet uns heute mehr als seltsam an.
So gibt beispielsweise
ein Programmzettel von Haydns "Schöpfung" vom 12.4.1803 in Aachen einen
Einblick in die damalige
Aufführungspraxis[41]: das durch auswärtige
Kräfte verstärkte Orchester (48 Musiker) besteht etwa zur Hälfte
aus Laien. Unter den Solisten wird nur einer und in dem aus 15 Mitgliedern
bestehenden Chor drei als "Artisten" bezeichnet. Im gleichen Jahr wird ein
Bläsercorps mit 8 Stadtmusikanten gegründet (Kapellmeister K. M.
Engels). Diese Formation entwickelte sich 1818 zum ersten "Orchester" bestehend
aus 22 Musikern: Dem Städtischen Bläsercorps, den Mitglieder des
Münsterorchesters und Musikliebhabern. Nur sieben Jahre später
folgte 1825 die Einweihung des neuen Stadttheaters mit der Aufführung
der 9. Symphonie von Beethoven anläßlich des Niederrheinischen
Musikfestes unter der Leitung des Beethoven-Biographen Ferdinand Ries. Die
Aufführung wird von 422 Sängern und Musikern bestritten, wobei
allerdings schwere Passagen ausgelassen wurden. (sic!!)
Man mag auch bedenken,
dass die Salons in dieser Zeit ein nicht unwesentliches Zentrum des
öffentlichen Musiklebens ausmachte. Das bedeutet, dass man sowohl von
der akribischen Werktreue als auch von der Sterilität heutiger
Konzertdarbietungen klassischer Musik noch weit entfernt war. Hat man sich
diese Musikästhetik doch vielleicht eher wie die des Jazz oder der
sogenannten U-Musik vorzustellen? Auch hier gibt es keine Werktreue, es wird
viel improvisiert, Kompositionen werden der jeweiligen Situation angepasst
und die Lebendigkeit der Salonkultur gehört zur Aufführungspraxis.
In der Tat ist
ab der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich ein Wandel zum
ästhetischen Ideal der Fabrikation
von fehlerfreien Musikprodukten
festzustellen, das sich von den Praktiken früherer Zeiten unterscheidet.
Heute gilt es als Peinlichkeit, wenn Musiker den "Text" ungenau spielen,
wobei heute im Musikleben meistens die Frage unerheblich ist, ob die Musiker
selbst befähigt sind, Musik zu machen. Noch zu Bachs
Zeiten[42] galt es als Betrug, wenn
Musiker auswendig gelernte Musik vortragen und sich damit dem Verdacht aussetzen,
dass sie ihr Handwerk des Musikmachens nicht beherrschen, andererseits wurde
mit der Genauigkeit der "Textwiedergabe" noch bis Liszt sehr
großzügig umgegangen.
Es wurde also im damaligen Musikleben ziemlich viel und vor allem ziemlich ungeniert improvisiert. Auch das "Nach-dem-Gehör-Spielen" von bekannten Themen, Volksliedern und Chorälen prägte das Musikleben in einem weit höheren Maße als es heute der Fall ist oder als wir es uns vorzustellen vermögen. Welche Konsequenzen müssten diese Erkenntnisse für unseren um historische Annäherung bemühten Musiktheorieunterricht haben?
Kein
Musikpädagoge wird ernsthaft bestreiten, dass zum "Erlernen" der Spielweisen
des New-Orleans-Jazz gute Improvisationskenntnisse eine unabdingbare
Voraussetzung sind. Die frühe Jazzstilistik ist immerhin durch die
Schallplatte so weit dokumentiert, dass es unstrittig ist, dass die Improvisation
in musikgeschichtlicher Hinsicht "existiert".
Da die Improvisationen
anderer Zeiten nicht "existieren" stürzen sich die philologisch geschulten
Wissenschaftler auf die Gesamtausgabe der Werke. Folglich geht auch die
Musikpädagogik - von
Ausnahmen[43] abgesehen - nicht davon
aus, dass es erforderlich ist, die Kompositionen aus der Perspektive der
Improvisation genau so hörend und nachschaffend kennen zu lernen wie
es für das Erlernen der Jazz-Stilistik selbstverständlich ist.
Ein fataler Irrtum? Welche Bedeutung hat die Improvisation als Quelle des
Musikschaffens in einer Zeit, in der man sehr viel über historische
Aufführungspraxis und quellennahes Studium hört, für die Praxis?
Selbstverständlich wird man sofort dem Einwand begegnen, dass diese
Annäherung doch wohl viel zu schwierig sei und vom "gemeinen" Musiker
niemals erreicht werden kann. Hindert das, sich der Wahrheit zu
nähern?
Die Musiktheoretiker
des 19. Jahrhunderts versuchten, dieser musikantischen Improvisationspraxis
einen theoretischen Überbau zu geben. Die ganze heutige Praxis der
Musiktheorie basiert schließlich im Kern auf den Konzepten dieser Zeit,
sei es als Stufentheorie oder als Funktionstheorie. Aber dies geschah
bezüglich der musikalischen Erfahrungen unter anderen Prämissen
als sie im 21. Jahrhundert vorhanden sind. So müssen wir zwangsläufig
zu einem kritischen Diskurs des eigenen Tonsatzunterrichts kommen: Von der
ursprünglichen Reflexion des praktischen Umgangs mit dem Akkordmaterial
ist heute - mit Ausnahme der Jazzmusiker - oft nur noch der theoretische
Überbau ohne die lebendige Improvisationspraxis
übriggeblieben:
Von dem
vollständigen Praxis-Theorie-Gebäude bleibt möglicherweise
heute nur noch übrig:
- ein in der Luft
schwebendes Dach (z.B. eine Theorie, die eigentlich ausgehen sollte von
Erfahrungen mit gehörsmäßig und grifftechnisch bereits gelerntem
Akkordmaterial, und die dieses praktische Wissen dann in einem weiteren Schritt
abstrahiert),
- möglicherweise
mit dem darunter liegenden Haus (dem zu analysierenden, sich in erster Linie
visuell darstellendem und so "verstandenem"
Notenmaterial),
- aber einem Haus
ohne Keller (in welchem ein intensives "Begreifen" des Akkordmaterials in
Verbindung mit entsprechendem musikalischem Vorstellungsvermögen
stattfindet).
[1] Dahlhaus in: Musik und Bildung 226ff.
[2] E.T. Ferand, Die Improvisation in Beispielen aus neun Jahrhunderten abendländischer Musik, Köln 1961
[3] Derek Bailey, Improvisation - Kunst ohne Werk 1987, 148
[4] Schönberg, Stil und Gedanke,1950/1976, 101 bzw. 140
[5] dito
[6] Die formbildenden Tendenzen der Harmonie, deutsch von Erwin Stein, Mainz 1957, S. 171
[7] A. Chr. Dies, Biog. Nachricht von J. Haydn; Wien 1810
[8] Helmut Aloysius Löw, Die Improvisation im Klavierwerk Beethovens, Saarbrücken 1962, insbesondere S. 11-23
[9] Anton Reicha, Lart
du compositeur dramatique ou Cours complet de composition vocale; (deutsch
von C. Czerny) VI. Buch S.
283.
[10] Löw S. 10
[11] Löw, S. 12
[12] Löw, S. 8, s.a. A. Leitzmann, Ludwig van Beethoven, Bericht der Zeitgenossen, Bd. I, S. 71
[13] A. Leitzmann, Ludwig van Beethoven, Bericht der Zeitgenossen, Bd. I, S. 128
[14] Löw, S. 12, 15f, K. Huschke Beethoven als Pianist und Dirigent, S. 21
[15] K. Huschke Beethoven als Pianist und Dirigent, S. 63
[16] ebd. S. 67
[17] Carl Czerny, Erinnerungen aus meinem Leben, hrsg. Und mit Anmerkungen versehen von Walter Kolneder, Straßburg und Baden Baden 1968, S. 45f.
[18] Ebd., S. 37
[19] Johann Nepomuk Hummel:
Ausfürliche theoretisch-practische Anweisung zum Piano-Forte-Spiel vom
ersten Elementar-Unterricht an bis zur vollkommensten Ausbildung.
3 vols. Viena, 1828 [sólo
edición original, no la 2ª edición, 1838].
[20]
Hummel, Klavierschule 2. Auflage 1838, S. 461f bzw.
468
[21] Löw, S. 12
[22] Herbert Schramowski "Der Einfluß der instrumentalen Improvisation auf den künstlerischen Entwicklungsgang des Komponisten", Hab.-Schrift Leipzig 1968, S. 94f.
[23]
Schramowski, S. 169f.
[24]
Schramowski, S. 173f.
[25] B. Litzmann, Clara Schumann, Leipzig 1920, S. 601
[26] Valerie Woodring Görtzen, Setting the Stage: Clara Schumann's Preludes, S. 255.s.a der Bericht von Eugenie Schumann Erinnerungen Stuttgart 1948, S. 28f. zit. bei Angelika App Quellenkundliche Studien Marburg 1996, S. 96
[27] Claudia de Vries, Die Pianistin Clara Wieck-Schumann, Mainz 1996, S. 158, s.a. Clara Wieck Tagebücher 1824-1831
[28] Marie Wieck 1912, S. 348 zit. nach Claudia de Vries, die Pianistin Clara Wieck-Schumann, Mainz 1996, S. 163
[29] Robert Schumann 1854, Bd. 4, S. 302f.
[30]Programm vom 1.12.1822 sowie der Bericht darüber in der Leipziger "Allgemeinen Musikalischen Zeitung " vom Januar 1823, Lina Ramann , F. Liszt , Als Künstler und Mensch, Bd. I, 42,f.
[31] Ramann S. 46, 47.
[34] Ramann Bd.
I, S. 19ff, 47, 109,
111
[35] R. Kokais, F.Liszt in seinen frühen Klavierwerken. S. 71f
[36] Ferand, Die Improvisation in der Musik, S. 15, s.a. P. Rehberg und G. Nestler, Franz Liszt. Die Geschichte seines Lebens, Schaffens und Wirkens, S. 303
[37] Herbert Schramowski "Der Einfluß der instrumentalen Improvisation auf den künstlerischen Entwicklungsgang des Komponisten", Hab.-Schrift Leipzig 1968
[38] Ulrich Mahlet (Hrsg.), Carl Czerny Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte op. 200 (ca. 1829) 1993
[39] Egidius Doll, Anleitung zur Improvisation, Regensburg 1989
[40] C. Czerny Von dem Vortrage, op. 500 dritter Teil Wien 1839, hrsg. Von Ulrich Mahlert, Wiesbaden 1991
[41] Lutz Felbick, Daten der Aachener Musikgeschichte, Chronologie und Bibliographie, Veröffentlichung der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Aachen, Aachen 1993.
[42] Werckmeister 1698( Cap. 32) meint, man solle "nicht jedem Prahler alsobald glauben" nur weil er in der Lage ist, etwas nach Noten auswendig vorzutragen, denn das extempore-Spiel sei sehr wichtig und es sei "nicht genug, daß man sich mit anderen Federn schmücke." Werckmeister 1702 §128
[43] Martin Gellrich, Üben mit Lis(z)t
weitere Literatur:
Haim Alexander, Improvisation am Klavier, Zeigenössische Techniken, Improvisation im Jazzstil, Historische Stilarten: Barock, Klassik, Romantik, Wolfenbüttel 1986