Vom Einfluss der Improvisation auf das Musikleben des 19. Jahrhunderts

Vortrag im Rahmen des Romantik-Projektes/Prof. Dr. Wolfgang Rüdiger an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf

Dieser Text ist ein Vortrags-Manuskript, welches nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Veröffentlichung hat.

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Inhalt                

1. Einleitung

2. Positionsbestimmung der Improvisation

3. Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Thema Improvisation

4. Improvisation im Vorfeld der Romantik bei Haydn und Beethoven

5. Carl Czerny und sein Einfluss auf Hummel, Wieck, Robert und Clara Schumann und Liszt

6. Weitere Literaturhinweise für die Improvisationspraxis des 19. Jahrhunderts

7. Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts

8.   Musiktheorie und Improvisation / Lied- und Choralbegleitung

Literaturangaben

 

1. Einleitung       

Am Ende des Magnifikats heißt es: "Sicut locutus est ad patres nostros". Nicht nur zu biblischen Zeiten war es üblich, die von den Vätern überlieferten Geschichten weiterzuerzählen. Es gab einen gesellschaftlichen Konsens, auf diese Weise historische Wahrheit zu schaffen. Demzufolge müsste ich bei meinem Vortrag über Improvisation berichten, wie mein Vater und der im 19. Jahrhundert geborene Großvater weit jenseits akademischer Einflüsse improvisiert haben. Das wäre sicher in meinem Falle sehr eindrucksvoll, aber ich unterstelle einmal, dass Sie sich auf einen solchen "unwissenschaftlichen" Vortrag nicht einlassen möchten. Ich denke auch, dass Sie eine solche Methode wahrscheinlich - ausgehend von dem heutigen Verständnis von Geschichtsschreibung - in historischer HInsicht als wenig bedeutsam empfinden würden .Von einer solchen durch die eigenen Vorfahren bezeugten Geschichtsschreibung wären Sie sicher enttäuscht?

Wenn Sie mich nach der musikalischen Improvisation im 19. Jahrhundert fragen, würde ich rein gefühlsmäßig sagen: ja natürlich, da wurde sehr viel improvisiert!

Allerdings weiß ich auch nicht, ob Sie gekommen sind, um sich meine gefühlsmäßigen Einschätzungen anzuhören. Also was kann ich tun, um Sie nicht allzu sehr zu enttäuschen? Als Alternative zu singulären Privatgeschichten und gefühlsmäßigen Vermutungen werde ich Ihnen im Hauptteil meines Vortrages Zitate und Belege zu der Praxis der bekannteren Komponisten vorstellen - und damit eine Musikpraxis aufzeigen, die ich von meinen eigenen Vorfahren sowieso schon kenne...

2. Positionsbestimmung der Improvisation

Die Improvisation ist in unserem heutigen - zu einem großen Maße von der Musikwissenschaft geprägten - Musikleben oft sehr kritisch bewertet worden, so z.B. von Carl Dahlhaus, der in einem Aufsatz gegen die improvisierenden Musiker polemisiert:

"Nüchtern analysiert, beruht Improvisation fast immer zu einem großen Teil auf Formeln, Kunstgriffen und Modellen,... Den Umriß oder die Gelenkstellen ... zuvor in Gedanken zu skizzieren, dürfte eher die Norm als die Ausnahme sein ... . Der Improvisierende muß sich ... auf ein jederzeit verfügbares Repertoire von Klischees stützen können, ... der Schein von Spontaneität gehört zu der Rolle, die der Improvisierende spielt,... von Täuschung zu reden wäre kunstfremder Rigorismus.... Improvisation stützt sich demnach, hinter dem ästhetischen

Schein von Unmittelbarkeit, partiell auf Formeln, Gewohnheiten und Normen. ... Man könnte ... behaupten, daß Neuheit primär ein Prinzip der Komposition sei, während Improvisation, die ohne einen Vorrat von Formeln und Modellen kaum zu bestehen vermag, zum Traditionalismus tendiere. Jedenfalls braucht sie einen Rückhalt: verfügbare melodische Wendungen, einen tragenden Baß, ein Harmonieschema, das sie paraphrasiert, oder ein zu entwickelndes Thema."[1]

Dahlhaus konstatiert weiter, dass die Alternativen der Improvisation entweder ein regressiver Traditionalismus oder eine Neigung zum "amorphen Getöse" seien.

 

3. Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Thema Improvisation

Irgend etwas scheint die abendländischen Gemüter beim Thema Improvisation zu erhitzen und es würde zu einigen Widersprüchen führen, die Worte von Dahlhaus auf die "großen Meister" anzuwenden. Wir würden von ihnen nicht erwarten, dass sie uns täuschen durch den "ästhetischen Schein von Unmittelbarkeit" oder dass sie uns das Abspulen von "Formeln, Gewohnheiten und Normen" als große Kunst vorgaukeln wollen.  Wir wohl kaum  Bach oder Beethoven das Attribut "amorphes Getöse" oder klischeehaftes Spiel zuschreiben.

Beim Thema Improvisation stellt sich bei Musikwissenschaftlern und Interpreten oft ein Gefühl der Hilflosigkeit oder der Peinlichkeit ein.

Die Hilflosigkeit ist mir bei der Vorbereitung zum diesem Thema bei Gesprächen mit Musikwissenschaftlern begegnet: Es gäbe da ja immerhin einige Werke von Reger u.a. , die mit "Improvisation" oder "Fantasie" betitelt seien, und zweifellos habe das Thema in der Musikgeschichte eine sehr große Bedeutung. Aber die Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Thema ist aber doch letztlich nicht zu eliminieren, denn das Problem einer dürftigen Quellenlage ist außerhalb der Existenz von Aufzeichnungsmöglichkeiten von Improvisationen nicht zu lösen. Ein überwiegend philologisch ausgerichtetes Kultursystem gerät hier an seine Grenzen. Aber stellen wir Musikgeschichte wirklich adäquat dar durch einseitige Fokussierung auf schriftliche Zeugnisse und Verbannung der Thematik Improvisation in den Bereich "Sonstige Themen"? Offensichtlich ist eine christlich-abendländische orale Kultur jenseits der Schriftkultur nicht vorstellbar?

Eins kann zumindest aus den Quellen, die heute gebührend zu Wort kommen sollen, beweisen werden: Musik hat zwar eine große schriftliche Tradition, aber - in weit höherem Maße als man es heute wahrhaben will - auch seine orale Tradition in Form von nicht schriftlich fixierter Spielpraxis. Diese bestimmte das Musikleben ganz wesentlich. Dass Improvisation ganz wesentlicher Bestandteil der Musikgeschichte war, ist unbestritten. So schreibt der Musikwissenschaftler E.T. Ferand: 

".. es gab kaum ein einziges Gebiet der Musik, das von der Improvisation unberührt geblieben, kaum eine einzige musikalische Technik oder Kompositionsform, die nicht der improvisatorischen Musikübung entsprungen oder von ihr wesentlich beeinflußt worden wäre." [2]

Bei Gesprächen von "ernsthaften" Jazzmusikern mit Interpreten der "ernsten" Musik können interessante Beobachtungen gemacht werden: Das Thema Improvisation wird von E-Musikern gerne mit großer Zurückhaltung angegangen. "Das könne man selber nicht, aber man bewundere alle, die es könnten...etc."

Peinlich können Improvisationsversuche konventionell-klassisch ausgebildeter Musiker werden, vor allem wenn das Unterfangen in einem dilettantischen Klimpern endet. Das wird wohl vor allem dann passieren, wenn die musikalische Vorstellungskraft zu gering ist. Selbst bei renommierten Musikern, die hervorragend Literatur interpretieren, sind die Fähigkeiten der Tonvorstellung außerhalb der vorgegeben Schienen notierter Musik oft sehr gering. Auch Gehörbildungslehrer werden bestätigen, dass dieser Mangel beim "normalen" Konzertieren kaum auffällt, aber just dann zu Tage tritt, wenn etwas vorgetragen wird, das nicht bis ins Detail zuvor erarbeitet wurde. Improvisieren beinhaltet große Risiken und es ist nicht ausgeschlossen, dass z.B. durch ein Nicht-Inspiriertsein ein unglaublich zähes und/oder nicht akzeptables "Musikprodukt" entsteht. Diese Gefahren sind bei der konventionellen Interpretation weitaus geringer, sofern die Komposition einigermaßen schlüssig vorgetragen wird. Der populärste Hörforscher der Bundesrepublik, Joachim Ernst Behrendt (1985), formuliert in der ihm eigenen plakativen Weise: "Wer hört, improvisiert." Ist es zulässig, daraus zu folgern, dass der Nicht-Improvisierende "nichts hört"? Leider hat man allerdings in unserer heutigen, vom Wettbewerb geprägten Musikkultur schneller Erfolg, wenn man Kompositionen von anderen nachspielt. Das führt zu der paradoxen Situation, dass man vom Instrumentalisten heute "nicht verlangt, dass er Musik macht".[3]

Sowohl Kompositions- als auch Improvisationsversuche, und seien sie auch noch so unvollkommen (!), tragen - wie Schönberg zu resümieren weiß - am besten dazu bei, innere Klangvorstellungen umzusetzen und zu entwickeln; andererseits wird derjenige, der innere Klangvorstellungen hat, den Wunsch haben, diese umzusetzen[4].

Schönberg schreibt, "Komponieren ist eine Art verlangsamte Improvisation; Oft kann man nicht schnell genug schreiben, um mit dem Strom der Gedanken Schritt zu halten."[5]

An andere Stelle[6] schreibt Schönberg:

"Das Verdienst einer Improvisation liegt mehr in ihrer inspirierten Unmittelbarkeit und Lebendigkeit als in ihrer Ausarbeitung. Selbstverständlich liegt der Unterschied zwischen einer komponierten und improvisierten Komposition im Tempo der Produktion, eine relativen Angelegenheit. So kann unter günstigsten Umständen eine Improvisation die gründliche Ausführung einer sorgfältig durchgearbeiteten Komposition besitzen. Im allgemeinen wird sie aber ihren Vorwurf mehr durch Anwendung von Phantasie und Gefühl als von strikt intellektuellen Fähigkeiten verfolgen. Eine Fülle von Themen und kontrastierenden Gedanken
werden ihre volle Wirkung durch reiche Modulation, oft zu entfernten Regionen, ausüben. (Fußnote: Aber warum soll das Gehirn  eines Musikers nicht ebenso schnell und gründlich arbeiten wie das eines Rechen- oder Schachgenies?) "

 

4. Improvisation im Vorfeld der Romantik bei Haydn und Beethoven

Am Anfang des 19. Jahrhunderts sind uns Zeugnisse eines Musiklebens in zeitgenössischen Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Konzertprogrammen, Konzertkritiken und sonstigen zeitgenössischen Berichten überliefert, aus denen hervorgeht, dass auf allen Ebenen improvisiert wurde.

Schon Haydn verschmähte die Inspiration aus dem realen Klang keineswegs. Der zeitgenössische Biograph Albert Christoph Dies berichtet: Sofort nach dem Frühstück "setzte er sich ans Klavier und phantasierte so lange, bis er eine seiner Absicht dienende Gedanken fand, die er sogleich zu Papier brachte."[7]

Der Musikwissenschaftler Helmut Aloysius Löw stellt in seiner Dissertation[8] die wichtigsten Quellen zur Improvisation Beethovens nach eigenen Aufzeichnungen und den Berichten der Zeitgenossen zusammen, deren wesentliche Aussagen im folgenden zusammengefasst werden.

So der Bericht von Anton Reicha[9] :

" L.v. Beethoven ... führte auf dem Fortepiano improvisierte Fantasien aus, welche in ihrer Entstehung stets noch weit mehr Erfolg und Bewunderer hatten als seine wirklichen Kompositionen. Er versicherte uns einst, ungefähr fünfundzwanzig Jahre vor seinem Tode, in einem Anfall von Laune, daß er den Entschluß gefaßt habe, von nun an so zu komponieren wie er fantasiere, das heißt, alles sogleich und unverändert zu Papier zu bringen, was seine Einbildungskraft ihm Gutes eingäbe, ohne sich um das Übrige zu kümmern. Man kann aber nicht sagen, daß er dieses Versprechen erfüllt hätte. ..."[10]

Einige Skizzenblätter können als Vorbereitung zur Improvisation angesehen werden. Z.B. findet sich hier die Eintragung Beethovens: "Man fantasirt eigentlich nur, wenn man gar nicht acht / giebt was man spielt, so - würde man / auch am besten, wahrsten fantasiren öffentlich - / sich ungezwungen überlassen, eben was einem gefällt."[11] Die Skizzen von 1808 zeigen, dass eine häusliche Vorbereitung auf das öffentliche Improvisieren nachzuweisen ist.

"Tatsächlich hat die Improvisation für Beethoven manchmal die Bedeutung einer Vorstudie gehabt. So ist von Ferdinand Ries bezeugt, daß der Meister sich nach einem Spaziergange, bei welchem ihm das Thema zum Finale der Appassionata eingefallen war, zuhause gleich ans Klavier setzte und 'wenigstens eine Stunde lang über das neue , so schön dastehende Finale dieser Sonate'  improvisierte."[12]

Friedrich Treitschke, der Textdichter des Fidelio berichtet: Beethoven "las , lief im Zimmer auf und ab, murmelte, brummte, wie er gewöhnlich statt zu singen tat, und riß das Fortepiano auf...., legte er den Text vor sich und begann wunderbare Phantasien, die aber leider kein zaubermittel festhalten konnte. Aus ihnen schien er das Motiv der Arie zu beschwören. Die Stunden schwanden, aber Beethoven phantasierte fort... Tags drauf war das treffliche Musikstück fertig."[13]

Es sind viele Anlässe und Konzerte bezeugt, bei denen Beethoven Fantasien und Variationen improvisiert hat. Z. B spielte er "in Aschaffenburg vor Sterkel seine Variationen über 'Vieni amore' von Righini. .../... Opernthemen aus dem Stegreif zu variieren war in öffentlichen Konzerten eine häufig anzutreffende Erscheinung." Beethoven improvisiert manchmal über zwei Stunden lang.[14]

Ein schönes Beispiel, für die Wirkungen, die Beethovens unbändige Kraft und Genialität bei anderen hervorrief, liefert auch Carl Czernys Bericht über Beethovens Zweikampf mit dem Kritiker Gelinek:

Ich erinnere mich noch jetzt, als eines Tages Gelinek meinem Vater erzählte, er sey für den Abend in eine Gesellschaft gebeten, wo er mit einem fremden Clavieristen eine Lanze brechen sollte. "Den wollen wir zusammenhauen", fügte Gelinek hinzu. Den folgenden Tag fragte mein Vater den Gelinek, wie der gestrige Kampf ausgefallen sey? "O!"- sagte Gelinek ganz niedergeschlagen, "an den gestrigen Tag werde ich denken! In dem jungen Menschen steckt der Satan. Nie habe ich so spielen gehört! Er fantasiert auf ein von mir gegebenes Thema, wie ich selbst Mozart nicht fantasieren gehört habe. Dann spielte er eigene Compositionen, die im höchsten Grade wunderbar und großartig sind, und er bringt auf dem Clavier Schwierigkeiten und Effekte hervor, von denen wir uns nie haben etwas träumen lassen." -"Ey", sagte mein Vater, "wie heißt dieser Mensch?" - "Er ist", antwortete Gelinek, "in kleiner, häßlicher, schwarz und störrisch aussehender junger Mann, den der Fürst Lichnowsky vor einigen Jahren aus Deutschland hierhergebracht, um ihn bey Haydn, Albrechtsberger und Salieri die Composition lernen zu lassen, und er heißt Beethoven..."[15]

Überliefert ist auch der Improvisationswettstreit[16] mit dem Organisten Abbe Vogler aus dem Jahre 1803.

Während seiner Lehrjahre bei Beethoven und in der Folgezeit hatte Czerny vielfach Gelegenheit, den bewunderten Meister fantasieren zu hören. Ähnlich wie viele seiner Zeitgenossen erlebte er die Fantasierkunst Beethovens, der gewiss auch von C. P. E. Bachs gedruckten Fantasien Anregungen empfangen hatte, als einzigartig und überwältigend. In Erinnerungen an Beethoven aus den fünfziger Jahren schreibt Czerny darüber:

"Hinsichtlich seiner Brillanz und der genialen Freizügigkeit des Spiels kam ihm damals niemand gleich, und selbst heute kann niemand außer Franz Liszt mit ihm verglichen werden. Seine Improvisation war höchst glanzvoll und packend: gleichgültig in welcher Gesellschaft er sich gerade befand, verstand er es, eine solche Wirkung auf jeden Hörer hervorzubringen, daß häufig genug keine Auge trocken blieb, manch einer aber in lautes Schluchzen ausbrach. So etwas Wunderbares war in seinem Ausdruck, abgesehen von der Schönheit und Originalität seiner Ideen und seines feurigen Stils, sie wiederzugeben. Wenn er eine Improvisation dieser Art beendet hatte, brach er meist in ein lautes Gelächter aus und machte sich über die Gemütsbewegung der Hörer lustig, die er ihnen verursacht hatte ..."

"Manchmal wählte er die belanglosesten und plattesten Stellen zum Improvisieren. Im Jahre 1808 oder 1809 kam der alte Pleyel nach Wien und brachte sein neustes Streichquartett mit, welches er vor dem Prinzen Lobkowitz aufführte. Beethoven war auch da und wurde schließlich gebeten, etwas zu spielen. Wie gewöhnlich ließ er sich lange bitten und sich endlich von den Damen ans Klavier zerren. Er wird zornig, ergreift eine der Stimmen von Pleyels Quartett - zufällig war es die der 2. Violine - wirft sie beliebig geöffnet aufs Pult und beginnt zu improvisieren. Niemals hatte man von ihm so Geistvolles, so Bezauberndes, so kunstreiches gehört: aber in der Mitte seiner Phantasie konnte man deutlich eine belanglosen Lauf aus der Violinstimme hören, wie sie zufällig da lag. Er hatte seine ganze Improvisation auf diesem Lauf aufgebaut."[17]

 

Beethovens Fantasierkunst wurde auch unmittelbar in Czernys Schülerkreis wirksam:

"In jener Zeit (um 1816) begann ich in meiner Wohnung für meine sehr zahlreichen Schüler jeden Sonntag musikalische Unterhaltungen vor einem sehr gewählten Zirkel zu veranstalten, welche durch mehrere Jahre fortgesetzt wurden. Beethoven war fast immer zugegen und mehrmal phantasierte er in denselben mit freundlicher Bereitwilligkeit und mit all dem Ideenreichtum, der seine Improvisationen ebensosehr, ja oft noch mehr auszeichnete als seine geschriebenen Werke."[18] 

5. Carl Czerny und sein Einfluss auf Hummel, Wieck, Robert und Clara Schumann und Liszt

Der Beethovenschüler Carl Czerny ist in mehrfacher Hinsicht bezüglich unseres Themas eine Zentralfigur. Er trug das Erbe Beethovens in vielfacher Weise weiter. Er beeinflusste Johann Nepomuk Hummel, Friedrich Wieck und den Schumann-Kreis und beeinflusste last not least seinen Schüler Franz Liszt.  Wir wollen diese Entwicklungen kurz umreißen.

Als Quelle ersten Ranges gilt Czernys Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte op. 200 (ca. 1829). Er setzt die Tradition der Lehrwerke fort, in denen das Fantasieren eine bedeutende Rolle spielt, z.B. in C.Ph.E. Bachs 2. Teil seines Versuchs über die wahre Art das Clavier zu spielen (1753/62), in welchem das 41. Capitel "Von der freyen Fantasie" handelt. 

Czerny bringt mit der in seinem Lehrbuch geäußerten Auffassung, dass die Ausbildung in der Improvisation "für den Clavier-Spieler eine besondere Pflicht und Zierde" sei, eine  Selbstverständlichkeit der Frühromantik zum Ausdruck. Auch sei es die Pflicht des Klavieristen, neben dem Studium der Harmonielehre, alles Gute und Große der Meister und die musikalischen Tagesneuigkeiten inklusive der Volksliedmelodien (s. Kapitel 4.1 bzw. 6.3) im Gedächtnis zu haben. Sein Lehrwerk teilt er ein in Vorübungen  (Preludien, Introduktionen, Cadenzen) und selbständige Fantasien. Letztere untergliedern sich in

 

  1. Durchführung eines Themas,
  2. Durchführung und Verbindung mehrerer Themen,
  3. Potpourries,
  4. Variationen,
  5. Fantasien im gebundenen und fugierten Stil,
  6. Capriccios der freyesten, ungebundenen Art.

 

Der Kern seines Lehrbuchs besteht - neben kurzen Anmerkungen - aus 51 Beispielen, die z. B. bei seinen 32 Variationen nur als Anfangsfragmente gegeben sind. Er ergänzt diese durch Hinweise auf geeignete Musikliteratur. Die in diesen Beispielen enthaltenen kompositorischen Gedanken zu lesen, wäre eine zentrale Aufgabe, die allerdings den Rahmen dieser Vortrags sprengen würde. Er betont mehrfach, dass die Studierenden die Beispiele in allen Tonarten spielen müssen. Für die Ausbildung der Studierenden fordert er außerdem, dass sie in der Lage sind, ein gegebenes Thema nach den "üblichen Gattungen" durchzuführen und gibt dazu  entsprechende Beispiele:

1.      Allegro

2.      Adagio

3.      Allegretto grazioso

4.      Scherzo Presto

5.      Rondo vivace

6.      Polacca

7.      Thema zu Variationen

8.      Fuge/Canon

9.      Walzer etc..

Er betont, dass sich "die momentane Stimmung des Spielers" in der Freien Fantasie "am ungezwungensten aussprechen" würde und vielleicht sei "keine Form geeigneter, das Bild des inneren Lebens und ästhetischen Sinns in ein großartiges Ganzes zusammen zu stellen und zu entfalten". Bei den Ausführungen über das Potpourri erkennen wir eine ästhetische Position, die wir heute der U-Musik zuschreiben würden: Da der größte Teil des Publikums "nur durch angenehme, bekannte Motive unterhalten" werden wolle, sei es angebracht,  "eine sinnreiche und interessante Zusammenstellung solcher Themen, welche beim Publikum bereits beliebt geworden sind" in Form eines Potpourris zu wählen. Dabei habe der Spieler "Rücksicht auf das Publikum, vor welchem er spielt" zu nehmen.

Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass Czerny 1833 einen zweiten Teil dieser Fantasierschule unter dem Titel "Die Kunst des Preludierens ..." mit 120  Beispielen als opus 300 - allerdings im Gegensatz zu opus 200 durchweg unkommentiert - veröffentlichte. Weitere Ausführungen und Beispiele Czernys zum Präludieren finden sich im 18. Kapitel im Band 3. seiner Piano-Forte-Schule op. 500.

Der Herausgeber Ulrich Mahlert stellt fest, dass Czerny mit seinem Lehrwerk Johann Nepomuk Hummel dazu veranlasste, in der zweiten Auflage seiner Klavierschule[19] aus dem Jahre 1838 der Improvisation einen gewichtigen Raum einzuräumen.

Diese Klavierschule und seine diesbezüglichen Äußerungen zählen neben Czernys Lehre zu der gewichtigsten zeitgenössischen Quelle zur Pädagogik des Fantasierens.

Hummel stellt die Bedeutung des Fantasierens in einem längeren Text[20] dar, den ich hier zitieren möchte.

"Nachdem ich das Klavierspiel, die Harmonie mit allen ihren Wendungen, die Art richtig und gut zu moduliren, die enharmonischen Tonverwechslungen, den Contrapunkt etc. bereits so in meiner Gewalt hatte, dass ich sie praktisch auszuüben im Stande war, und mein Talent selbsteigener Erfindung, (meine Fähigkeit, musikalische Ideen aus mir selbst zu erzeugen,) als das erste, bei allem nur einigermassen bedeutendem freien Phantasiren vorauszusetzende Erfordernis, durch das fleissige Spielen der vorzüglichsten altern und neuern Komposizionen erweitert, genährt, bereichert, meinen Geschmack gereinigt, erhöhet und befestigt hatte, mir dadurch auch die Art, musikalische Ideen zu ordnen, zu verbinden, sie fort- und auszuführen, anschaulicher und geläufiger geworden war:

so benutzte ich, während des Tages beschäftigt mit Unterichtgeben und Komponiren gewöhnlich des Abends, wo ich mich frei, heiter und aufgelegt fühlte, die Stunde der Dämmerung, um mich am Klavier phantasirend, bald im galanten, bald im gebundenen und fugirten Styl, meinen Eingebungen (meinen Ideen, Kentnissen und Gefühlen) zu überlassen.

Ich richtete dabei meine Aufmerksamkeit vorzüglich auf gute Verbindung und Fortführung der Ideen, auf strengen Rhythmus, auch bei aller Takt-Mannichfaltigkeit des Ausdrucks und Charakters, auf abwechselndes Kolorit durch Mannichfaltigkeit der Vortragsarten, reicheres oder sparsameres Figuriren, Moduliren, Verzieren u. dgl., und hütete mich besonders auch, dass, wenn mir das Fort- und Ausspinnen einer Idee gelang, ich mich nicht zu sehr in die Länge und Breite verlohr - wozu man in solchem Falle, damit aber entweder in althergebrachte Formen oder in Künsteleien leicht geräth, und so, bald steif und monoton, bald kleinlich und unverständlich wird.

Dieses mein Phantasiren versuchte ich nun entweder blos auf meine eigenen Melodien, wie sie mir im Augenblick zukamen, zu gründen, oder auch irgend ein bekanntes Thema mit hinein zu verweben. Letzteres wollte ich jedoch weniger variiren, als es ganz frei aus dem Stegreif in mancherlei Gestalten, Formen, Wendungen, gebunden oder (nach dem gewöhnlichen Ausdruck) galant bearbeiten und durchführen.

Nachdem sich somit allmählig die Fähigkeiten, der Geschmack und die Beurtheilung mehr ausgebildet und festergestellt hatten, ich mir damit nach einigen Jahren ruhigen Studiums auf meinem Zimmer eine vollkommene Gewandtheit und eine Art von Zuversicht in der Sache erworben hatte, und der Mechanismus meiner Finger das, vom Geiste in demselben Augenblick Eingegebene, sicher und ohne Schwierigkeit auszuführen vermochte: so versuchte ich, - aber längere Zeit hindurch nur immer vor wenigen Personen, theils Kennern, theils Nichtkennern zu phantasiren, und dabei im Stillen zu beobachten, welche Wirkung das Vorgetragene auf beide Theile meines kleinen, gemischten Publikums machte - wobei ich weit weniger ihren Worten nach Beendigung, als ihren Mienen und andern Regungen während des Fortgangs meines Spiels, vertrauete. Obschon mir nun an der Zufriedenheit der Kenner bei weitem am meisten gelegen sein musste: so war mir doch auch an der, der Nichtkenner, gelegen; ... Öffentlich phantasirend hervorzutreten, wagte ich aber durchaus nicht eher, bis ich nach vielfältigen Erfahrungen in jenen engern Kreisen, gewiss sein konnte, beiden verschiedenartigen Theilen, .... zu genügen. Jetzt nun gestehe ich, dass ich - und schon seit beträchtlicher Reihe von Jahren - auch nicht einen Augenblick verlegen bin, vor jedem Publico, und bestünde es aus zwei- bis dreitausend Zuhörern, zu phantasiren, möge man nun vorziehen, dass ich dabei mich meinen eigenen Eingebungen und Gefühlen allein überlasse, oder mir vorgelegte Themata denselben zu Grunde lege. Ich fühle mich sogar frischer, freier, unbefangener und fröhlicher sobald ich mich zu solchem Phantasiren, als wenn ich mich hinsetze, eine niedergeschriebene Composition, an welche ich mich ja doch mehr oder weniger knechtisch binden muss, vorzutragen. Dies Letzte führe ich unbefangen hier an, keineswegs um mich vor meinen und der Leser Augen herauszustreichen, sondern um Andere aus meinen vielfältigen Erfahrungen an mir selbst zur Überzeugung von der Wahrheit zu ermuntern oder darin zu bestärken: dass - die dazu geeigneten Anlagen vorausgesetzt - Zeit, Geduld und Fleiss an's Ziel geleiten."

"Ich schließe mit einer Empfehlung des freien Phantasirens überhaupt und in jeder achtbaren Form an Alle, denen es nicht blos um Unterhaltung und Geschicklichkeit im Praktischen, sondern auch, ja vornehmlich, um den Geist und Sinn in ihrer Kunst zu thun ist: diese Empfehlung aber ist nie so dringend gewesen, als jetzt, weil es deren, die nur jene, nicht diese beabsichtigen, nie so Viele als jetzt gegeben hat. Selbst wenn man mit Geist immerwährend nur Noten spielt, wird derselbe viel weniger genährt, erweitert und ausgebildet, als durch öfteres, wenn auch nur massig gelingendes, doch mit vollem Bewustsein, Aufbietung aller Kräfte, nach gewisser Richtung und Ordnung geübtes freies Phantasiren. Und welch ein ganz besonderes Mittel der innern Belebung und Stärkung, der Erhebung in gedrückter, der Beruhigung in aufgereizter Gemüthslage, und mithin auch welch ein ganz besonderes Mittel zu einem würdigen, wahrhaft wohlthuenden, erquickenden Genüsse, solch ein freies Phantasiren darbiete - schon dadurch, dass es sich näher, als alles Vorgeschriebene, an des Spielers eigenste Individualität und an sein innerstes Wesen anschliesst, wie dies eben in dieser Stunde beschaffen und gestimmt, wie eben sich auszusprechen ihm Bedürfniss des Geistes und Herzens ist: davon wünsche ich allen meinen Lesern, indem ich von ihnen scheide, vielfältige Erfahrungen an sich selbst, und glaube ihnen in ihrer Kunst nichts Schöneres und Werthvolleres wünschen zu können."

Auch der bedeutende Klavierpädagoge Friedrich Wieck steht unter dem Einfluss von Beethoven und Czerny. Er hatte Beethoven noch 1826 improvisieren gehört.[21]

Die Durcharbeitung von Czernys Fantasierschule gehörte zu seinem pädagogischem Konzept wie auch die  Prinzipien seines Anfängerunterricht stark von der Improvisation und dem Spielen nach Gehör geprägt waren. Dazu gehörte auch die Ausbildung des Gehörs, Spielen von Übungen, die vom Schüler selbst erfunden wurden, frühes Transponieren, Kennenlernen der Klangmöglichkeiten des Klaviers.

Nun zu Robert Schumann.

"Die künstlerische Qualität seiner freien Fantasien bestätigt Töpken, ein Freund des jungen Schumann. Bezugnehmend auf die gemeinsam verbrachten Stunden während der Heidelberger Studentenzeit berichtet Töpken: '... Nach der gemeinschaftlichen Unterhaltung folgten dann in der Regel von seiner Seite freie Phantasien auf dem Klaviere, in denen er alle Geister entfesselte. Ich gestehe, dass diese unmittelbaren musikalischen Ergüsse Schumanns mir immer einen Genuß gewährt haben, wie ich ihn später, so große Künstler ich auch hörte, nie wieder gehabt. Die Ideen strömten ihm zu in einer Fülle, die sich nie erschöpfte. Aus einem Gedanken, den er in allen Gestalten erscheinen ließ, quoll und sprudelte alles andere wie von selbst hervor und hindurch zog sich der eigentümliche Geist in seiner Tiefe und mit allem Zauber der Poesie, zugleich schon mit den deutlich erkennbaren Grundzügen seines musikalischen Wesens, sowohl nach der Seite der energischen urkräftigen, als auch der duftig zarten, sinnend träumerischen Gedanken.' "[22]

"Die unbändige Lust am Improvisieren nahm selbst dann nicht ab, als Schumann sich das Handleiden zuzog, wie aus dem Jugendbrief vom 19.3.1834 zu ersehen ist: 'Beim Phantasieren stört es mich nicht. Es hat sich sogar ein alter Muth, vor Leuten zu phantasieren eingestellt.' Lange bevor es zum Theorieunterricht kam, versuchte der junge Schumann, u.a. auf improvisatorischem Wege, das Reich der Töne zu erobern. Zwar empfand er anfänglich den Mangel an ausreichendem Wissen in den theoretischen Disziplinen, den er dann bald auszugleichen sich anschickte, andererseits schwärmte er von dem Glücklichsein bei seinen täglichen Fantasien am Instrument, wie aus den Tagebuchaufzeichnungen und Briefen hervorgeht."[23]

"Die Befürchtung, bei vorwiegend improvisatorischem Schaffen wertvolles Gedankengut für die endgültige kompositorische Gestaltwerdung zu verlieren, war der Anlaß, weshalb Schumann im Brief aus Wien vom 3.12.1838 Clara riet, nicht zu viel zu fanatisieren, weil zu viel ungenutzt abströme, was man besser anwenden könne. Sie möge sich immer vornehmen, alles gleich auf das Papier zu bringen."[24]

Aber Clara Schumann scheint sich an diesen Rat nur bedingt gehalten zu haben, denn noch im Oktober 1895 schreibt sie in ihr Tagebuch: "Gern schrieb ich mal meine Präludien, die ich immer vor den Tonleitern mache, auf, aber es ist so schwer, weil ich sie immer wieder anders mache, wie es mir eben gerade am Clavier einfällt."[25]

Auf Bitten ihrer Kinder schrieb sie doch eine Anzahl Präludien in dieser Zeit auf.

So berichtet Marie Schumann im Februar 1929: "In ihrem letzten Lebensjahre schrieb unsere Mutter auf unser Bitten die Uebungen nieder, wie sie sie in ihre Tonleitern, mit denen sie täglich ihr Studium begann, einflocht, sowie einige Vorspiele, wie sie sie vor den Stücken zu improvisieren pflegte, ganz frei von dem Moment hingegeben; auch öffentlich tat sie dies u. man konnte aus der Art wie ihr die Harmonien zuströmten, ermessen wie sie disponiert war. Nun meinte sie zwar, es sei ihr nicht möglich diese Art von freien Phantasien festzuhalten, doch gab sie endlich unsere Bitten nach und so entstanden diese kleinen Vorspiele."[26]

Die Autorin Claudia de Vries fast ihre diesbezüglichen Forschungen über Clara Schumann zusammen: "1831 erarbeitete sie unter Wiecks Leitung Czernys Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte. Auf Clara Wiecks frühesten Konzertprogrammen fehlte nie eine Improvisation über ein bekanntes Thema..."[27]

 Claudia de Vries zitiert weiterhin die Berichte der Schwester Claras, Marie Wieck, die auch ein allgemeines Bild von der Bedeutung der Improvisation im Konzertleben des 19. Jahrhunderts gibt:

"Klara spielte vor den Stücken nur einige schöne Akkorde, Bülow und andere dagegen fanatisierten nicht nur über das kommende Stück, sondern auch noch nachträglich über das vorangegangene, sodaß sie immer sehr lange aus dem Präludieren gar nicht heraus kamen."[28]

Ich habe dem Namensgeber unserer Hochschule und dessen Umfeld aus der Vielzahl der Komponisten naturgemäß einen besonderen Raum innerhalb dieses Vortrag eingeräumt. Allerdings stellt gerade Schumann für die Improvisationsgeschichte ein Problem dar. Er schreibt in seinen 1854 erschienen "Musikalischen Haus- und Lebensregeln": "Verlieh dir der Himmel eine rege Phantasie, so wirst du in einsamen Stunden wohl oft wie festgebannt am Flügel sitzen, in Harmonien dein Inneres aussprechen wollen, und um so geheimnisvoller wirst du dich wie in magische Kreise gezogen fühlen, je unklarer dir vielleicht das Harmonienreich noch ist. Der Jugend glücklichste Stunden sind diese. Hüte dich indessen, dich zu oft einem Talente hinzugeben, das Kraft und Zeit gleichsam an Schattenbilder zu verschwenden dich verleitet. Die Beherrschung der Form, die Kraft klarer Gestaltung gewinnst du nur durch das feste Zeichen der Schrift. Schreibe also mehr, als du phantasirst."[29]

Inwiefern diese Äußerung und das oben genannte Briefzitat an Clara soweit verallgemeinert werden dürfen, dass sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts bezüglich des Fantasierens eine krasser Wandel vollzog, ist fraglich. Richtig ist vielmehr, dass es eine Tendenz gab, von der Improvisation immer mehr abzurücken, ist unstrittig.

So hatte beispielsweise neben der frühen Traditionslinie Beethoven-Czerny-Wieck-Schumann auch noch der spätromatische Czerny-Schüler Franz Liszt große Bedeutung:

Selbstverständlich war die Improvisation Bestandteil seiner öffentlichen oder privaten Konzerte und zwar schon während der Knabenzeit wie aus Programmen[30] ersichtlich ist.

Bekannt ist auch Liszts Improvisation in Anwesenheit Beethovens vom 13.4.1823. Aus den Konversationsheften Beethovens geht hervor, dass der Zwölfjährige diese Improvisation  über ein von Beethoven erbetenes Thema als wörtlich verstandenes Extempore-Spiel verstanden haben wollte, denn dort ist zu lesen: "Er will es aber versiegelt erst dort eröffnen."[31] Die Augsburger Allgemeine Zeitung schrieb am 17.10.1823 über die Improvisation Liszts: "Was aber die Bewunderung dabei auf den höchsten Gipfel trieb, war eine Improvisation über gegebene Themas. Der junge Liszt hatte schon auf dem Anschlagzettel gebeten, daß das Publikum die Güte haben möchte, ihm die Motive aufzugeben; und man gab ihm das Thema der Variationen, die Molique in dem Koncert von Moschels gespielt hatte, sowie die Melodie 'God save the King'. Der Knabe nahm zuerst das Thema von Molique und variierte es mit einer solchen Kunst, daß man eine vollständige (!) Komposition (!) zu hören glaubte. Dasselbe that er dann mit dem zweiten Thema, welches er später mit dem ersten vereinigte und auf die genialste Weise ineinander verflocht und verschmolz. Man darf sich deshalb nicht wundern, daß das zahlreiche und entzückte Publikum seinen Beifallsbezeugungen kaum Grenzen zu setzen wußte."

Von den Konzerten in Paris (1824) und in England (1824/25) wird ähnliches berichtet und es ist ersichtlich, dass auf die Improvisation bei Konzerten auch hier niemals verzichtet wurde. Insbesondere legte man in England großen Wert auf die Improvisationskunst eines Künstlers.[32]

Liszt äußerst sich in einem Brief vom April und Mai 1838 an Massard über die künstlerisch-kommunikative Bedeutung der Improvisation: Eine Improvisation über die vom Publikum vorgeschlagenen Themen sei "eine Art zu improvisieren, welche zwischen Publikum und Künstler die unmittelbarsten (!) Beziehungen (!) herstellt... Jeder ist begierig zu hören, was der Künstler aus dem ihm gegebenen Thema machen werde. So oft es in einer neuen Form erscheint, freut sich der Geber der guten Wirkung, (die er hervorruft) wie über eine Sache, die er persönlich beigetragen. So entsteht denn eine gemeinschaftliche Arbeit, eine Cisilierarbeit, mit welcher der Künstler die ihm anvertrauten Juwelen umgiebt."  

Die Aussagen der Biographin Lina Ramann zu Liszt sind insofern als authentisch zu bewerten, als dass sie durch Liszt autorisiert sind. Sie berichtet, dass es zur Zeit Liszts viele Improvisatoren gegeben habe, aber nur Liszt das "Urbild"[33] des echten Improvisators verkörperte und begründet dies ausführlich. Über den jungen Liszt schreibt Ramann: "Er spielte nach dem Gehör,... er suchte.. nach seinen 'Klängen', wie er die selbst erfundenen Harmonien und Modulationen nannte, auch fing er an, über Melodien in freien Phantasien sich zu ergehen."

"Zu improvisieren - dieses freie Aussprechen seiner selbst -war ihm von seinen Kinderjahren an immer das liebste gewesen.."[34]

R. Kokais[35] führt aus, dass das "Unfertige" des Kunstwerks für Liszt und für die gesamte romantische Epoche charakteristisch sei.

Dies zeigt auch der Bericht Borodins aus dem Jahre 1877, der  hinsichtlich der Texttreue aufschlussreich ist: "Spielt Liszt etwas durch, so fängt er manchmal an, Eigenes hinzuzusetzen, und so entsteht allmählich unter seinen Händen nicht das betreffende Stück selbst, sondern eine  Improvisation darüber - eine jener glänzenden Transkriptionen, die seinen Ruhm als improvisierenden Klavierspieler in die ganze Welt getragen haben."[36]

6. Weitere Literaturhinweise für die Improvisationspraxis des 19. Jahrhunderts

Weitere unzählige Belege für die Improvisationspraxis im 19. Jahrhundert ließen sich zu den Komponisten und Improvisationskünstlern Mendelsohn-Bartholdy, Chopin, Tschaikowsky, Bruckner, Franck, Reger und viele weitere Komponisten und selbstverständlich auch Interpreten anführen. Wesentliche Quellen dazu sind vorbildlich in der Arbeit von Herbert Schramowski[37] zusammengetragen. 

Auch die Einführung Ulrich Mahlets[38] von Carl Czerny Anleitung stellt  Improvisationspraxis dieser Zeit hervorragend dar. Egidius Doll[39] hat wertvolle Quellen aus den zeitgenössischen Lehrbüchern zusammengetragen. Auch seine Einleitung kann als eine qualifizierte Zusammenfassung der Thematik betrachtet werden.

7. Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts

Für eine adäquate Aufführungspraxis der Musik des 19. Jahrhunderts - vor allem der ersten Hälfte - ist es demzufolge unabdingbar, Werke nicht einfach beziehungslos nebeneinander zu stellen, sondern durch geschickte improvisierte Überleitungen miteinander zu verbinden, auf dass nicht Stimmung und Tonarten zusammentreffen, die weit voneinander entfernt sind. Mit einer derartigen Praxis und eventueller zusätzlicher Fantasien über freie Themen wird dem Ideal dieser Zeit gehuldigt, denn ein "musicus" solle nach der Ästhetik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts "die Tätigkeiten des Vortragens , des Komponierens und des Fantasierens in sich vereinigen."[40]

Mir ist durchaus bewusst, dass die Umsetzung dieser  Forderung eine Revolution des Ausbildungswesens bedeuten würde. Scharf formuliert: Virtuosen, die nicht improvisieren können, müssten für die Musik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als inkompetent bezeichnet werden. Unser Hochschulwesen hat aber diesen historisch zweifellos wichtigen Zweig der Musikausübung  abgeschnitten und wird damit der Annäherung an die Aufführungspraxis nicht gerecht.

Die Konzertkultur war ganz wesentlich durch die Improvisation geprägt. Das bezog sich aber nicht nur auf die Werkentstehung, sondern auch auf deren Aufführungspraktiken:

Insbesondere der Kooperationsverbund des "Niederrheinischen Musikfestes", welches ab 1827 jährlich wechselnd in Düsseldorf, Köln und Aachen stattfand, gibt Aufschluss über das damalige Musikleben: Die Programme, die Diskussionen über den Anteil der mitwirkenden Laien, der Ruf nach größerer Professionalität und die daraus resultierende Aufführungspraxis: Vieles mutet uns heute mehr als seltsam an.

So gibt beispielsweise ein Programmzettel von Haydns "Schöpfung" vom 12.4.1803 in Aachen einen Einblick in die damalige Aufführungspraxis[41]: das durch auswärtige Kräfte verstärkte Orchester (48 Musiker) besteht etwa zur Hälfte aus Laien. Unter den Solisten wird nur einer und in dem aus 15 Mitgliedern bestehenden Chor drei als "Artisten" bezeichnet. Im gleichen Jahr wird ein Bläsercorps mit 8 Stadtmusikanten gegründet (Kapellmeister K. M. Engels). Diese Formation entwickelte sich 1818 zum ersten "Orchester" bestehend aus 22 Musikern: Dem Städtischen Bläsercorps, den Mitglieder des Münsterorchesters und Musikliebhabern. Nur sieben Jahre später folgte 1825 die Einweihung des neuen Stadttheaters mit der Aufführung der 9. Symphonie von Beethoven anläßlich des Niederrheinischen Musikfestes unter der Leitung des Beethoven-Biographen Ferdinand Ries. Die Aufführung wird von 422 Sängern und Musikern bestritten, wobei allerdings schwere Passagen ausgelassen wurden. (sic!!)

Man mag auch bedenken, dass die Salons in dieser Zeit ein nicht unwesentliches Zentrum des öffentlichen Musiklebens ausmachte. Das bedeutet, dass man sowohl von der akribischen Werktreue als auch von der Sterilität heutiger Konzertdarbietungen klassischer Musik noch weit entfernt war. Hat man sich diese Musikästhetik doch vielleicht eher wie die des Jazz oder der sogenannten U-Musik vorzustellen? Auch hier gibt es keine Werktreue, es wird viel improvisiert, Kompositionen werden der jeweiligen Situation angepasst und die Lebendigkeit der Salonkultur gehört zur Aufführungspraxis.

In der Tat ist ab der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich ein Wandel zum ästhetischen Ideal der Fabrikation von  fehlerfreien Musikprodukten festzustellen, das sich von den Praktiken früherer Zeiten unterscheidet. Heute gilt es als Peinlichkeit, wenn Musiker den "Text" ungenau spielen, wobei heute im Musikleben meistens die Frage unerheblich ist, ob die Musiker selbst befähigt sind, Musik zu machen. Noch zu Bachs Zeiten[42] galt es als Betrug, wenn Musiker auswendig gelernte Musik vortragen und sich damit dem Verdacht aussetzen, dass sie ihr Handwerk des Musikmachens nicht beherrschen, andererseits wurde mit der Genauigkeit der "Textwiedergabe" noch bis Liszt sehr großzügig umgegangen.

8. Musiktheorie und Improvisation / Lied- und Choralbegleitung

Es wurde also im damaligen Musikleben ziemlich viel und vor allem ziemlich ungeniert improvisiert. Auch das "Nach-dem-Gehör-Spielen" von bekannten Themen, Volksliedern und Chorälen prägte das Musikleben in einem weit höheren Maße als es heute der Fall ist oder als wir es uns vorzustellen vermögen. Welche Konsequenzen müssten diese Erkenntnisse für unseren um historische Annäherung bemühten Musiktheorieunterricht haben?

Kein Musikpädagoge wird ernsthaft bestreiten, dass zum "Erlernen" der Spielweisen des New-Orleans-Jazz gute Improvisationskenntnisse eine unabdingbare Voraussetzung sind. Die frühe Jazzstilistik ist immerhin durch die Schallplatte so weit dokumentiert, dass es unstrittig ist, dass die Improvisation in musikgeschichtlicher Hinsicht "existiert".

Da die Improvisationen anderer Zeiten nicht "existieren" stürzen sich die philologisch geschulten Wissenschaftler auf die Gesamtausgabe der Werke. Folglich geht auch die Musikpädagogik - von Ausnahmen[43] abgesehen - nicht davon aus, dass es erforderlich ist, die Kompositionen aus der Perspektive der Improvisation genau so hörend und nachschaffend kennen zu lernen wie es für das Erlernen der Jazz-Stilistik selbstverständlich ist. Ein fataler Irrtum? Welche Bedeutung hat die Improvisation als Quelle des Musikschaffens in einer Zeit, in der man sehr viel über historische Aufführungspraxis und quellennahes Studium hört, für die Praxis? Selbstverständlich wird man sofort dem Einwand begegnen, dass diese Annäherung doch wohl viel zu schwierig sei und vom "gemeinen" Musiker niemals erreicht werden kann. Hindert das, sich der Wahrheit zu nähern?  

Die Musiktheoretiker des 19. Jahrhunderts versuchten, dieser musikantischen Improvisationspraxis einen theoretischen Überbau zu geben. Die ganze heutige Praxis der Musiktheorie basiert schließlich im Kern auf den Konzepten dieser Zeit, sei es als Stufentheorie oder als Funktionstheorie. Aber dies geschah bezüglich der musikalischen Erfahrungen unter anderen Prämissen als sie im 21. Jahrhundert vorhanden sind. So müssen wir zwangsläufig zu einem kritischen Diskurs des eigenen Tonsatzunterrichts kommen: Von der ursprünglichen Reflexion des praktischen Umgangs mit dem Akkordmaterial ist heute - mit Ausnahme der Jazzmusiker - oft nur noch der theoretische Überbau ohne die lebendige Improvisationspraxis übriggeblieben:

Von dem vollständigen Praxis-Theorie-Gebäude bleibt möglicherweise heute nur noch übrig:

- ein in der Luft schwebendes Dach (z.B. eine Theorie, die eigentlich ausgehen sollte von Erfahrungen mit gehörsmäßig und grifftechnisch bereits gelerntem Akkordmaterial, und die dieses praktische Wissen dann in einem weiteren Schritt abstrahiert),

- möglicherweise mit dem darunter liegenden Haus (dem zu analysierenden, sich in erster Linie visuell darstellendem und so "verstandenem" Notenmaterial),

- aber einem Haus ohne Keller (in welchem ein intensives "Begreifen" des Akkordmaterials in Verbindung mit entsprechendem musikalischem Vorstellungsvermögen stattfindet).



[1] Dahlhaus in: Musik und Bildung 226ff.

[2] E.T. Ferand, Die Improvisation in Beispielen aus neun Jahrhunderten abendländischer Musik, Köln 1961

[3] Derek Bailey, Improvisation - Kunst ohne Werk 1987, 148

[4] Schönberg, Stil und Gedanke,1950/1976, 101 bzw. 140

[5] dito

[6] Die formbildenden Tendenzen der Harmonie, deutsch von Erwin Stein, Mainz 1957, S. 171

[7] A. Chr. Dies, Biog. Nachricht von J. Haydn; Wien 1810

[8]  Helmut Aloysius Löw, Die Improvisation im Klavierwerk Beethovens, Saarbrücken 1962, insbesondere S. 11-23

[9] Anton Reicha, L’art du compositeur dramatique ou Cours complet de composition vocale; (deutsch von C. Czerny) VI. Buch S. 283.

[10] Löw S. 10

[11] Löw, S. 12

[12] Löw, S. 8, s.a. A. Leitzmann, Ludwig van Beethoven, Bericht der Zeitgenossen, Bd. I, S. 71

[13] A. Leitzmann, Ludwig van Beethoven, Bericht der Zeitgenossen, Bd. I, S. 128

[14] Löw, S. 12, 15f, K. Huschke Beethoven als Pianist und Dirigent, S. 21

[15] K. Huschke Beethoven als Pianist und Dirigent, S. 63

[16] ebd. S. 67  

[17] Carl Czerny, Erinnerungen aus meinem Leben, hrsg. Und mit Anmerkungen versehen von Walter Kolneder, Straßburg und Baden Baden 1968,  S. 45f.

[18] Ebd., S. 37

[19] Johann Nepomuk Hummel: Ausfürliche theoretisch-practische Anweisung zum Piano-Forte-Spiel vom ersten Elementar-Unterricht an bis zur vollkommensten Ausbildung. 3 vols. Viena, 1828 [sólo edición original, no la 2ª edición, 1838].

[20] Hummel, Klavierschule 2. Auflage 1838, S. 461f bzw. 468

[21] Löw, S. 12

[22] Herbert Schramowski "Der Einfluß der instrumentalen Improvisation auf den künstlerischen Entwicklungsgang des Komponisten", Hab.-Schrift Leipzig 1968, S. 94f.

[23] Schramowski, S. 169f.

[24] Schramowski, S. 173f.

[25] B. Litzmann, Clara Schumann, Leipzig 1920, S. 601

[26] Valerie Woodring Görtzen, Setting the Stage: Clara Schumann's Preludes, S. 255.s.a der Bericht von Eugenie Schumann Erinnerungen Stuttgart 1948, S. 28f. zit. bei Angelika App Quellenkundliche Studien Marburg 1996, S. 96

[27] Claudia de Vries, Die Pianistin  Clara Wieck-Schumann, Mainz 1996, S. 158, s.a. Clara Wieck Tagebücher 1824-1831

[28]  Marie Wieck 1912, S. 348 zit. nach Claudia de Vries, die Pianistin  Clara Wieck-Schumann, Mainz 1996, S. 163

[29] Robert Schumann 1854, Bd. 4, S. 302f.

[30]Programm vom 1.12.1822 sowie der Bericht darüber in der Leipziger "Allgemeinen Musikalischen Zeitung " vom Januar 1823, Lina Ramann , F. Liszt , Als Künstler und Mensch, Bd. I, 42,f.

[31] Ramann S. 46, 47.

[32] Ramann, Bd. I, S. 58ff,61, 70ff, 73ff.

[33] Ramann Bd. I S. 427f

[34] Ramann Bd. I, S. 19ff, 47, 109, 111

[35] R. Kokais, F.Liszt in seinen frühen Klavierwerken. S. 71f

[36] Ferand, Die Improvisation in der Musik, S. 15, s.a. P. Rehberg und G. Nestler, Franz Liszt. Die Geschichte seines Lebens, Schaffens und Wirkens, S. 303

[37] Herbert Schramowski "Der Einfluß der instrumentalen Improvisation auf den künstlerischen Entwicklungsgang des Komponisten", Hab.-Schrift Leipzig 1968

[38] Ulrich Mahlet (Hrsg.), Carl Czerny Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte op. 200 (ca. 1829) 1993

[39] Egidius Doll, Anleitung zur Improvisation, Regensburg 1989

[40] C. Czerny Von dem Vortrage, op. 500 dritter Teil Wien 1839, hrsg. Von Ulrich Mahlert, Wiesbaden 1991

[41] Lutz Felbick, Daten der Aachener Musikgeschichte, Chronologie und Bibliographie, Veröffentlichung der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Aachen, Aachen 1993.

[42] Werckmeister 1698( Cap. 32) meint, man solle "nicht jedem Prahler alsobald glauben" nur weil er in der Lage ist, etwas nach Noten auswendig vorzutragen, denn das extempore-Spiel sei sehr wichtig und es sei "nicht genug, daß man sich mit anderen Federn schmücke." Werckmeister 1702 §128

[43] Martin Gellrich, Üben mit Lis(z)t

 weitere Literatur:

Haim Alexander, Improvisation am Klavier, Zeigenössische Techniken, Improvisation im Jazzstil, Historische Stilarten: Barock, Klassik, Romantik, Wolfenbüttel 1986