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Veröffentlichung in der Hochschulzeitschrift der Robert Schumann Hochschule
"Consequenzen", Düsseldorf 2003
Robert Schumanns MUSIKALISCHE HAUS- UND LEBENS-REGELN beginnen mit dem Satz
"Die Bildung des Gehörs ist das Wichtigste."
Mir scheint, dass die Zeit reif ist, dass die Robert Schumann Hochschule
dieser Einsicht ihres Namensgebers Rechnung trägt. Deshalb wollen die
folgenden zwölf Thesen zur Gehörbildung/Hörerziehung zur
Diskussion einladen. Ob es gelingen mag, neben der Priorität des am
Musikmarkt orientierten Wettbewerbsdenken auch der Schumanns Anliegen langfristig
an unserer Hochschule zu einer sichtbaren Manifestation zu verhelfen?
1. Die grundsätzliche Dichotomie zwischen Ohr und Auge, zwischen Perzeption
und Apperzeption, globaler und fokussierter Wahrnehmung erfordert innerhalb
des Faches zwei didaktisch und methodisch unterschiedliche Ansätze,
die in der Literatur am häufigsten durch die gegensätzlichen Begriffe
Hörerziehung und Gehörbildung umrissen wurden.
(A.Waczkat, Gehörbildung oder
Hörerziehung? in: üben&Musizieren 4/92). Der Begriff
Hörerziehung ist hier im historischen Sinne zu verstehen als eine vor
etwa 50 Jahren (Borris 1956) artikulierte
Notwendigkeit, die traditionelle Gehörbildung in Richtung einer auf
das ganze Werk bezogenen Höranalyse zu erweitern.
2. Folgende Relationen sind bei der Dichotomie Ohr/Auge innerhalb des Faches
denkbar: Zunächst sollte ausgehend vom akustischen Ereignis eine
visuelle/verbale Vorstellung entwickelt werden, denn man sollte in der Lage
sein, das Gehörte zu beschreiben oder aufzuschreiben. Zweitens sollte
ausgehend vom visuell/verbal Gegebenen eine differenzierte Vorstellung des
akustischen Ereignisses erfolgen: Notenbilder und musiktheoretische Fachbegriffe
sollten mit Klangvorstellungen verbunden sein. Das schließt drittens
auch die Erfahrung der Grenze mit ein, an der es unmöglich wird,
sämtliche Aspekte des nonverbalen akustischen Kunstwerkes in verbale
oder visuelle Medien zu übertragen.
3. Der primär auditive Zweig der Hörerziehung, der sich mit der
Wahrnehmung und Beschreibung von musikalischen Ereignissen beschäftigt,
die die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses überschreiten
(Miller 1956,
Nauck-Börner 1988), ist - ähnlich
wie die Beurteilung einer künstlerischen Interpretation - in entsprechenden
Prüfungen weniger evaluierbar als der primär auf den memorierbaren
und "vollständig" visualisierbaren Bereich angelegte Zweig der
traditionellen Gehörbildung.
4. Diesem Konflikt darf eine künstlerische Hochschule nicht durch einseitige
Fokussierung auf die prüfungskompatible Methode der Verschriftlichung
von kleinsten Tonsatzbausteinen ausweichen. Akustische Ereignisse - insbesondere
in der Neuen Musik - lassen sich nun einmal oft nur unter Schwierigkeiten
verschriftlichen oder verbalisieren. Auch die Erkenntnisse der Gestalttheorie
(Ehrenfels 1890), dass eine (musikalische)
Gestalt mehr ist als die Summe ihrer Einzelelemente, können als Argumente
für diese ganzheitliche Auffassung dienen.
5. Weil die Hörerziehung sich mit akustischen Ereignissen befasst, die
wegen ihrer Komplexität nicht bis ins Detail verbalisierbar sind, kommt
es in diesem Fach häufig zu einer terminologischen Hilflosigkeit. So
kann es erforderlich werden, die Höreindrücke mit Begriffen jenseits
der musikalischen Fachterminologie oder mittels anderer Medien, z.B. graphischen
Hörskizzen, darzustellen. Hörerziehung kann als Höranalyse
folgende Einzelbereiche umfassen: Formhören, Intonationshören,
Instrumentierungshören, das Hören Neuer Musik, aber auch
ästhetische Fragen und die damit verbundene "sich selbst wahrnehmende
Wahrnehmung" (Lachenmann 1996). Um einen
Praxisbezug zu gewährleisten, sollte die Auswahl der Klangbeispiele
fachspezifisch erfolgen.
6. In der Gehörbildung werden - den Erkenntnissen der Kognitiven Psychologie
folgend - die Grundkategorien des musikalischen Hörens unterrichtet,
die als die klassischen musikalischen Elementarfunktionen bezeichnet werden
können: rhythmische Funktionen, melodische Funktionen (Relative Solmisation
in Gestalt der Tonika-Do-Methode) und
Akkordfunktionen nach Riemann/Maler. Hierbei handelt es sich um kurze, schnell
memorierbare Übungsmodelle.
7. Als bewährter methodischer Ausgangspunkt kann gelten, dass die Wahrnehmung dann am intensivsten ist, wenn sie nicht nur mittels einer mentalen Verarbeitung der wahrgenommen akustischen Reize geschieht, sondern durch eigene Produktion oder Reproduktion, die mit kinästhetischen Körperempfindungen verbunden ist, erlebt wird(s.a. mein Vortrag "Methoden der Hörerziehung").
8. So ist die eminent wichtige Bedeutung des Gesangs und der (Nach-) Improvisation (Kaiser 1998, Gruhn 1998) in musikpädagogischer und musikhistorischer Hinsicht unbestritten. Bezüglich des Vom-Blatt-Singens war es eine für die deutsche Musikpädagogik fatale Entwicklung, dass der Streit um die richtige Solmisations- bzw. Solfège-Methode in vielen Fällen dazu geführt hat, Methoden dieser Art gänzlich zu eliminieren. Auch in der Geschichte der Improvisationskunst könnten derartige Stagnationen aufgezeigt werden.
9. Die in der traditionellen Gehörbildung üblichen Methoden
(monologisierendes Musikdiktat etc.) bedürfen nicht nur hinsichtlich
der Ergänzung durch die Höranalyse dringend einer Reform. "Man
bedenke einmal,...was es kostet, wenn ein Hochschullehrer eine Quinte
anschlägt." (Kühn 1983).
10. Deshalb sind Tonträger und/oder multimediale Lernprogramme
(Enders 1999) im Unterricht, in einem besonderen
Hörlabor mit Übemöglichkeiten als auch für die
häusliche Arbeit der Studierenden einzusetzen. Auch muss die
Möglichkeit ausgeschöpft werden, Arbeitsgruppen zu bilden, in denen
die Studierenden den Stoff selbständig vertiefen.
11. Die Studierenden sollten ein Bewusstsein über die Bedingungen des
Hörens erlangen. Die Bedeutung des Lang- und Kurzzeitgedächtnisses
sollen beim Wahrnehmungsprozess in Theorie und Praxis erfahren werden. Die
Gestaltwahrnehmungstheorien labiler und stabiler Strukturen sind Bestandteil
des Unterrichtskonzeptes. Das schließt die Vermittlung von elementaren
musikpsychologischen Erkenntnissen (s.
Bruhn/Oerter/Rösing 1993, und
Felbick, Methoden der Hörerziehung)über
das musikalische Hören innerhalb einer breit angelegten musikalischen
Stilistik ein. Auch den Lehrenden sollten die Bedingungen des Unterrichtens
bewusst sein. Deshalb sollte eine Hörschulung an einer Musikhochschule
in der Lage sein, sich Rechenschaft über ihre Didaktik und Methodik
abzugeben.
12. Neben der hochschulpädagogischen Arbeit wäre ein
interdisziplinäres Forschungsprojekt anzustreben, in welchem die neusten
Erkenntnisse und eine umfangreiche Fachbibliographie zusammengetragen, vernetzt
und kommentiert werden. Dieses Pilotprojekt sollte auch ein Lernprogramm
enthalten, welches an den Erfahrungen anderer Programme (z.B.
Enders) anknüpft, dieses jedoch im Hinblick
auf komplexere Aufgabenstellungen und stilistische Vielfalt weiterführt.
Als Medium hierfür wird das Internet und eine entsprechende CD-ROM-Version
vorgeschlagen. Der Austausch zwischen den Hochschulen hat in der Fachgemeinschaft
Hörerziehung/Gehörbildung im Rahmen der
GMTH bereits begonnen. Ein fachlicher Austausch
innerhalb unserer eigenen Hochschule ist anzustreben.