Lutz Felbick: Beiträge zum Fach Gehörbildung/Hörerziehung - Seine grundsätzliche Problematik innerhalb der Schriftkultur und sein (musik-) wissenschaftlicher Kontext

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Der folgende Text bietet eine Übersicht über die Problemfelder des Faches und zeigt einige Literatur für ein weiteres Studium auf. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung eines Referats, welches der Autor anläßlich der Fachtagung Musiktheorie/Hörerziehung in der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart am 6.6.97 gehalten hat (Stand 21.1.2000). Die Quellenangaben beziehen sich auf die Bibliographie zum Thema Hören. Für Hinweise bin ich dankbar: Lutz@Felbick.de

Inhalt:

A) (Musik-) wissenschaftlicher Kontext

  1. empirische Musikpsychologie
  2. Rezeptionsforschung
  3. Wahrnehmungspsychologie / kognitive Psychologie
  4. Gestaltpsychologie
  5. Kybernetik
  6. Gedächtnisforschung
  7. Neuropsychologie
  8. Logopädie
  9. Psychophysik
  10. Musikphilosophie
  11. Hermeneutik
  12. Ton- bzw. Hörpsychologie
  13. Hörerziehung zur Neuen Musik
  14. Intonationskunde
  15. Klangspektrenforschung
  16. Musikpädagogik: Gehörbildung/Hörerziehung...
  17. Solfège/Gesangsschulen und Lehrbücher der Chorleitung...
  18. Lehrbücher des Tonsatzes...
  19. Software / Neue Medien / Internet
  20. Hörertypologien
  21. Hörtheorien

B) Zur grundsätzlichen Problematik des Faches Gehörbildung/Hörerziehung innerhalb der Schriftkultur

  1. Gehörbildung - Hörerziehung
  2. tonales Hören - intervallisches Hören
  3. Alte Musik - Neue Musik
  4. tonal - atonal
  5. Hören - Sehen
  6. orale Kultur - Schriftkultur
  7. Improvisation - Komposition

C) Konsequenzen

A) (Musik-) wissenschaftlicher Kontext

Das Fach Gehörbildung/Hörerziehung wird innerhalb des Hochschulstudiums im allgemeinen den musiktheoretisch-wissenschaftlichen Fächern zugeordnet. Man sollte deshalb erwarten, daß umfangreiche wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, aus denen sich eine zufriedenstellende "Theorie des musikalischen Hörens" entwickeln läßt.

Selbstverständlich gibt es eine beachtliche Zahl von Arbeiten, die sich direkt auf das Thema beziehen oder Beiträge zur Theorie des (Musik-) Hörens aus einer anderen Perspektive liefern. Einige von ihnen seien hier - gewissermaßen als systematischer Auszug aus meiner chronologischen Bibliographie (Felbick) - exemplarisch genannt:

Es gibt eine Reihe von Arbeiten aus den Disziplinen der empirischen Musikpsychologie (AUHAGEN 1994), derRezeptionsforschung (ROSS 1983), der Wahrnehmungspsychologie (CARTERETTE/FRIEDMANN 1974-78) , der kognitiven Psychologie und der Gestaltpsychologie (EHRENFELS 1890, REINECKE 1960). Der Hörvorgang kann auch innerhalb eines kybernetischer Modells beschrieben werden (REINECKE 1975) oder im Zusammenhang mit der Gedächtnisforschung(NAUCK-BÖRNER 1988) untersucht werden. Die inzwischen bemühte Neuropsychologie kommt zu dem Ergebnis, daß "man zerebrale Vorgänge beim Musizieren zur Zeit noch nicht untersuchen" kann (BRUHN/OERTER/RÖSING 1993, 632, POPPER/ECCLES 1982JOURDAIN 1998). Auch Forscher, die sich z.B. aus logopädischer (GUNDERMANN 1982) oderpsychophysikalischer (ZWICKER 1982) Sicht mit der Verarbeitung von Klängen beschäftigen, können in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein. In Fragen der Tonalität, der Konsonantentheorie, der Intervallehre und der Erkenntnistheorie werden auch dieMusikphilosophie (PFROGNER 1953, ZIPP 1974, RIEMANN 1914f., ALBERSHEIM 1979, VOGEL 1975), die philosophische Hermeneutik (GRUHN 1989) und dieTon- bzw. Hörpsychologie (HELMHOLTZ 1863, STUMPF 1883) herangezogen. HANDSCHIN (1927) berief sich ähnlich wie Riemann auf den mittelalterlichen Philosophen Johannes Scotus und folgerte aus den musikalisch-mathematischen Fakten des traditionellen abendländischen Tonsystems, daß es eine Proportionspsychologie geben müsse.

Zu den Fragen der Hörerziehung in Bezug auf Neue Musik wird in der Literatur - abgesehen von einer Unzahl von polemischen Ausführungen(FEDERHOFER/WELLEK 1971/72) oder singulären Feststellungen - in relativ geringem Maße systematisch eingegangen (LISSA 1969, ANSERMET 1965, HAAS/ KARKOSCHKA 1981, WARNER 1969, LACHENMANN 1970, LACHENMANN 1985,  FRIEDMANN 1990, KABISCH/WEHINGER 1997). Andere Hörfähigkeiten wie dasIntonationshören (ENDERS 1981, GELLER 1997) und das Hören von Klangspektren (NITSCHE 1978, WARNKE 1976, HESSE 1972) werden in beiden Fächern nur am Rande behandelt, da sie in der Regel Gegenstand des Instrumentalunterichtes sind.

Schließlich müssen innerhalb dieser Literaturübersicht der Vollständigkeit halber einige der bekannten Lehrwerke derMusikpädagogik erwähnt werden (Übersicht bei KAISER 1994, BRÜHL 1978, MACKAMUL 1969, QUISTORP 1970, KÜHN 1983, ZILKENS 1993, EDLUND 1963). Der Jazz hat seine eigene eartraining-Literatur (BUSCH 1986, AEBERSOLD 1989, VAN DER GELD 1997, CLARK 1996). Die angloamerikanische Literatur kombiniert häufig die Fächer eartraining mit anderen Fächern wie mit sight-singing (DAMSCHRODER 1996), mit Instrumantalunterricht Gitarre  (VOGEL 1995) oder stellt allgemeine Lehrbücher bereit (ARKOSSY GHEZZO1994, CURTIS 1995, ADOLPHE 1995, BENWARD 1996). Zu einzelnen Fragen des Faches gibt es Spezialliteratur, wie z.B. zum Thema Rhythmus (HEITMANN 1996). Die in diesen Unterrichtswerken benutzten Unterrichtsmethoden weichen z.T. voneinander erheblich ab.

In den Gesangsschulen und Lehrbüchern der Chorleitung (NÄGELI 1810, BEHRMANN 1984) finden sich mitunter wertvolle Hinweise zu Fragen der Gehörbildung. In diesem Zusammenhang muß auf die eminent wichtige Rolle der Solfège-Tradition und ihrer Varianten hingewiesen werden (hist. Übersicht bei STOVEROCK 1964, RÜDIGER 1969, GRUNENBERG). Auch die Lehrbücher des Tonsatzes (MALER 1931, DE LA MOTTE 1981 S. 315-327) bringen mitunter wichtige Hinweise. Einige - z.B. SCHÖNBERG (1942/1972) -  haben sogar, obwohl dies Titel nicht direkt erkennbar ist, die intendierte primäre Absicht, ein Lehrgang der Gehörbildung zu sein.

Es gibt inzwischen auch Software, die sich der Gehörbildung annimmt (SCHUH 1991, ARNOLD 1990, RIEDE 1991, Enders 1999). Noch besser hat sich die Kombination von Tonträgern und Lehrbüchern in der Gehörbildung bewährt (BUSCH 1986, BREUER 1990, KRAHL/ZOPF 1989). Mit dem Einzug dieser neuen Medien werden neue Fragestellungen eines außerschulischen Lernens aufgeworfen, die in der Praxis bisher nur in Einzelfällen mit einbezogen werden.

Die Versuche, Hörertypologien durch historische, philosophische, soziologische oder empirische Untersuchungen wissenschaftlich zu erforschen (ADORNO 1962, ALT 1935, BESSELER 1959, RAUHE 1971, WELLEK 1939), können nicht uneingeschränkt aufrecht erhalten werde. So schreibt Helga de la Motte-Haber im Vorwort zur Dissertation von Christa Nauk-Börner 1980:

"Keine der bisher für das Musikhören entwickelten Typologien hält den Grundsätzen der wissenschaftlichen Begriffsbildung stand."

Einer der wichtigsten Theoretiker war nach meiner Einschätzung Hugo Riemann (FELBICK 1998), dessen Grundforderungen in vielen Punkten auch heute noch eine allgemeine Gültigkeit haben. "Sein Ziel war [es beispielsweise,] eine Kategorienlehre des Musikhörens..." zu formulieren, wobei gleichgewichtig neben den harmonikalen Kategorien die "metrischen und die rhythmischen" stehen (RIEMANN 1967) .Riemann unterscheidet sich von anderen Autoren (ENDERS 1969) vor allem durch seine induktive Methode (RIEMANN 1914): Ausgehend von einer platonisch-spekulativen Theorie der Musik formuliert er erste Gedanken zu einer "Lehre von den Tonvorstellungen", bei der das akustische Ereignis - u.a. mit dem Verweis auf Beethovens Taubheit - zunehmend unwichtiger wird. Diese These bestätigt sich bei Versuchen, in denen ein "es" und ein "dis" unterschiedlich auf einem temperiert gestimmten Tasteninstrument harmonisiert (H-Dur/E-Dur, bzw. C-Moll/C-Dur) wird und man Testpersonen auffordert, die "Taste" dis/es nachzusingen: obwohl in beiden Fällen die gleiche pysikalische Frequenz geboten wird, weicht die Intonationbeurteilung durch die Testperson erheblich ab. Das beweist, daß die physikalische Erscheinung nicht übereinstimmt mit der Beurteilung der Wahrnehmung. Wir hören immer "das Gemeinte" , auch wo es nicht vollkommen realisiert ist (RIEMANN 1921,S. 87; GÜLDENSTEIN 1971, S.26).

So interessant diese Arbeiten auch sein mögen: In sämtlichen Arbeiten wird von Hypothesen zu einzelnen Aspekten des Hörens ausgegangen. Jedoch reichen sie wegen der physikalisch-psychologischen Komplexität des Hörvorgangs nicht für eine umfassende wissenschaftliche Theorie der Gehörbildung aus: Weder kann ein akustisches Ereignis umfassend exakt, objektiv und analysatorbezogen dargestellt werden (LINDNER 1977,80), noch kann der psychologische Vorgang umfassend erforscht werden, da immer ein "experimentelles Dilemma" auftritt (ROSS 1983,380): Der Rezeptionsvorgang ist, wie dies die neuere Rezeptionsforschung (RÖSING 1983) noch einmal beweist, zu vieldimensional. Es ist also ratsam, sich gegenüber den leichtfertig aufgestellten Hypothesen zur Theorie des musikalischen Hörens oder den sich daraus ergebenden anderen Vermutungen den Grundfragen der Musik skeptisch zu verhalten. Auch zentrale Fragen der Gehörbildung müssen unbeantwortet bleiben, wie z.B. die nach der (angeborenen) Musikalität. GEMBRIS (1986) kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluß, daß eine unreflektierte Auffassung

"eher durch Weltanschauung bestimmt [sei], als daß sie sich auf handfeste Forschungsergebnisse stützen kann".

Eine Perspektive zeigt der zum gegenseitigen Respekt aufrufende Gedanke SCHÖNBERGS (1950/1976/1992, S.183) auf:

Zitierung sinngemäß: Innerhalb bestimmter außereuropäischer Musikkulturen "ist es vielleicht sogar allein der Rhythmus,...der einen Zauber ausübt... eine Schlußfolgerung scheint unausweichlich: es gibt ein Geheimnis."

Ähnlich äußert sich ZWICKER (1982):

"Das Studium des menschlichen Gehörs und seiner Eigenschaften [soll] dazu dienen, sich im Wundern zu üben"

Im Lichte - oder besser im Dunkel - dieser großen Unsicherheit haben sich Musikstudenten und Lehrende den Problemen des "ungeliebten Nebenfaches" (WESTERMANN 1965) Gehörbildung zu stellen; geht es hierbei doch um nichts geringeres als die detaillierte auditive Apperzeption, d.h. um die bewußte Wahrnehmung von musikalischen Ereignissen und die Fähigkeit, diese verbal oder mit Hilfe der Schrift darzustellen oder bzw. eine innerliche Vorstellungen von akustischen Ereignissen zu entwickeln. Die wenigen gesicherten Erkenntnisse sind bruchstückhaft:

Man muß vermuten, daß beim Wahrnehmungsvorgang die Grundbausteine und Vorstellungen im Langzeitgedächtnis (LINDNER 1977) als Repräsentationen bzw. patterns (AUHAGEN 1994,S. 233) gespeichert und von dort  bei Bedarf werden. Verschiedene Faktoren spielen bei diesem Verarbeitungsprozeß eine entscheidende Rolle:

  1. die grundsätzliche und aktuelle persönliche Disposition des Rezipienten inklusive seiner Erwartungshaltungen
  2. die vorhandenen oder fehlenden Repräsentation bestimmter patterns im Langzeitgedächtnis
  3. die Beschaffenheit des akustischen Ereignisses inklusive zeitlicher, rhythmischer und dynamischer Aspekte. Deren strukturelle Beschaffenheit führen zu einer Reihe von wahrnehmungs- und gestaltpsychologischen Grundkonstellationen (POPPENSIEKER 1986)
  4. die Abhängigkeit von der begrenzten Gedächtniskapazität des Kurzzeitgedächtnisses (MILLER 1956), dessen Apperzeptionsgrenze (REINECKE 1975) informationstheoretisch beschrieben werden kann. Sie bildet den Hauptfilter oder das Nadelör der Rezeption
  5. die wahrnehmungspsychologische Tatsache, daß bei Überschreitung der memorierbaren Informationskapazität während der Rezeption, das Wahrgenommene zu Gruppen "chunks" ( NAUCK-BÖRNER 1988) zusammengefaßt wird und nach hierarchischen Prinzipien in wichtige und unwichtigere Informationen klassifiziert und mit den kategorialen Repräsentation im Langzeitgedächtnis verglichen wird.

Sämtliche Diskussionen, die diese fünf Abhängigkeiten des Musikhörens und -verstehens nicht beachten, scheinen in die Irre zu gehen. Inwiefern andere Formen des Gedächtnisses, wie z.B. das fotographische Gedächtnis von diesen Grundprinzipien abweichen, müßte diskutiert werden (OLIVEROS 1999). Schönberg schreibt jedenfalls mit Recht: "Erinnern ist der erste Schritt zum Verstehen." (SCHÖNBERG 1950/1976/1992). Memorierter Inhalt zeichnet sich wiederum dadurch aus, daß er singend, sprechend, pfeifend, nachimprovisierend oder ggf. mit Hilfe der Schrift wiedergegeben bzw. beschrieben werden kann. Eine allgemeine Anmerkung sei erlaubt: Aufgrund der Tatsache, dass die menschliche Wahrnehmung kaum in der Lage ist, die Erscheinungen so wahrzunehmen wie sie beschaffen sind, sondern (hierarchisch) geordnete Strukturen bevorzugt und dazu neigt, anderes oder fremdes zu ignorieren oder eliminieren, sind unzählige politische, religiöse, ästhetische und allgemein-kulturelle Probleme entstanden. Möglicherweise kann dem nur durch bestimmte Meditationspraktiken entgegengewirkt werden (OLIVEROS).

B) Zur grundsätzlichen Problematik des Faches Gehörbildung/Hörerziehung innerhalb der Schriftkultur

1.Gehörbildung - Hörerziehung

Im Musiklexikon MGG(Neuausgabe 1994f.) wird der Begriff Hörerziehung in dem Artikel Gehörbildung erwähnt, darüber hinaus aber nicht gesondert als eigenes Stichwort behandelt. Der neuere Begriff Hörerziehung ist vor allem im Zusammenhang mit der Curriclumdiskussion zum Unterrichtsfach Musik in den 60er /70er Jahren entstanden (GÜNTHER1965-74) der Hörerziehung und Gehörbildung werden im allgemeinen in der Literatur (anders: GRUHN 1987) als auch im Musikhochschulbereich nicht immer klar voneinander getrennt. So werden beispielsweise in dem Tagungsbericht der DACH-Tagung (1978) von 1976 der Begriff Gehörbildung unter Hörerziehung subsumiert (s.a. MACKAMUL 1975). An einigen Musikhochschulen wird nur der Begriff "Hörerziehung" verwendet, an anderen nur der Begriff "Gehörbildung". Andere verwenden beide Begriffe. Es kommt auch vor, daß in Prüfungsordnungen als Unterrichtsinhalt der Begriff "Hörerziehung" erscheint, welcher dann aber in der gleichen Hochschule im Vorlesungsverzeichnis nicht aufgeführt wird, sondern stillschweigend mit dem Begriff Gehörbildung gleichgesetzt wird. WACZKAT (1992) definiert das Ausbildungsziel des Gehörbildungsunterrichtes

"als die Fähigkeit, Tonvorstellungen zu entwickeln, ein Notenbild beim Lesen innerlich zu hören zu können."

Hörerziehung dagegen sei

"ganz allgemein die Einbeziehung von auditiver Wahrnehmung in das Unterrichtsgeschehen."

Außer diesen beiden Begriffen werden in der Literatur auch andere wie z.B. Hörschulung (BRÜHL 1978), Hörtraining (HEITMANN 1996), auditive Tonalitätsbestimmung (AUHAGEN 1994), Bildung im Hören (KAISER 1992), im angloamerikanischen Sprachraum Ear Training, Aural training u.ä. benutzt, abgesehen von den Begriffen Rezeptionsforschung, Perzeption und Apperzeption und auditive Wahrnehmung, die in der Musikpsychologie (GRUHN 1989) üblich sind. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Begriffsbildungen wie sie bei Logopäden benutzt werden: pädagogische Audiologie (LINDNER 1975) oder Akupädie (GUNDERMANN 1982).

Sofern sich die Gehörbildung des Musikdiktats bedient, wäre sie ein Fach, welches sich mit leicht prüfbarem (hoch-)schulkompatibelem Material beschäftigt. Zu diesem Thema äußern sich HAAS/KARKOSCHKA (1981) im Zusammenhang mit der Hörerziehung Neuer Musik:

"Allgemein läßt sich sagen, daß überall dort, wo mit differenzierten Zensuren geprüft wird, die prüfbaren Elemente eine Bedeutung erhalten, die ihnen von der Sache her nicht zukommt."

Gleichzeitig liefert er Vorschläge zu einer neuen Hörerziehungsmethodik und -didaktik und fordert ähnlich wie Mackamul das Formenhören, das Klangfarbenhören und den Interpretationsvergleich.

2. tonales Hören - intervallisches Hören

Offensichtlich liegt MACKAMUL (1969) das Hören Neuer Musik sehr am Herzen: Er versucht zumindest das Problem so zu lösen, daß er zwischen tonalem Hören und intervallischem Hören unterscheidet. Es ist aber wohl kaum einzusehen, daß es - wie man aus Mackamuls Ausführungen entnehmen könnte - z.B. sowohl ein intervallisches als auch ein tonales Hören einer reinen Quinte geben könnte! In Wirklichkeit sind die Verhältnisse, vor allem, bezüglich der Frage, ob wir temperierte oder reine Intervalle denken im Zusammenhang mit dem sog. "Zurechthören" (ROHWER 1960) etwas komplizierter (ENDERS 1981). Dieses kann hier wegen der Kürze der Zeit nicht ausgeführt werden. Jedenfalls hatte sich aber mit der Einführung der sog. freien Tonalität eine grundsätzlich neue Problematik in der Gehörbildung ergeben, die eine gesonderte Behandlung erforderlich macht.

3. Alte Musik - Neue Musik

Von diesem pragmatischen Ansatz her möge hier - viele andere Definitionen sind möglich - Neue Musik definiert werden: Sie ist mit den bis zur Jahrhundertwende  des 19./20. Jahrhunderts in der Gehörbildung üblichen Methoden und der damit verbundenen älteren Tonalitätsauffassung nicht mehr zu bewältigen.

4. tonal - atonal

Schon bei der Begrifflichkeit tonal - atonal scheiden sich bekanntlich die Geister. Der Grund dafür liegt sicher zunächst einmal in Mißverständnissen, die sich auftun können, da es keine allgemein akzeptierte Definition von Tonalität (AUHAGEN 1994 , LACHENMANN 1996 107, dieses Zitat  s. FELBICK 1999) gibt.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet eine Aussage von Diether de la Motte, der Tonalität als "erkennbare Ordnung des Tonmaterials" definiert und daraus folgert, daß der i.A. eng gefaßte Begriff im Sinne der Dur-Moll-Tonalität nicht nur durch die Tonalität der Gregorianik, sondern auch durch die der Dodekaphonie erweitert werden müsse (DE LA MOTTE 1981, 351). Zu anderen Aspekten der Neuen Musik erfahren wir in diesem Zusammenhang nichts. Obwohl de la Motte im folgenden eine hervorragende Darstellung der Hörprobleme polytonaler (d.h. "freitonaler") Musik liefert, verzichtet er darauf, zu erläutern, auf welchen Erkenntniswegen eine derartige Einsicht erfolgen könnte. Seine weiteren Ausführungen zeigen, daß er in seinem "Lese- und Arbeitsbuch" stillschweigend die Analyse mit Hilfe der Partitur voraussetzt. So wird also bei Diether de la Motte nicht deutlich, ob er die Ordnung des Tonmaterials meint, die auf visuellem oder eine solche, die auf auditivem Weg erkannt wird.

5. Hören - Sehen

Hilfreicher und differenzierter sind da die Ausführungen von KOLNEDER (1962), der zwischen der visuellen und auditiven Analyse (letzteres ist auch unter dem Begriff Höranalyse bekannt) unterscheidet. Er stellt fest - offensichtlich auditive Rezeption voraussetzend - , daß es eine bekannte Tatsache ist, daß "innerhalb der sogenannten ernsten Musik manche Menschen Werke eines gewissen stilistischen Bereichs nicht hören wollen und können, weil sie in ihnen keine sinnvolle musikalische Ordnung zu erkennen vermögen" (KOLNEDER 1962). Er setzt das "Erkennen von musikalisch Gestaltetem" in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.

Konsequenterweise hat der Verfasser ein Seminar zu den Liedern der Wiener Schule durchgeführt, in dem er sowohl die auditive Analyse als auch die visuelle Analyse mit den Studierenden durchführte. Die auditive Analyse wurde sowohl ohne als auch mit Vorlage eines Partiturextraktes (Gesangsstimme ohne Klavierbegleitung) durchgeführt. Die wiederholte Rezeption führte zu einer unterschiedlichen Bewertung. Daraus ergibt sich, daß - de la Mottes Definition folgend - die Tonalität in hörpsychologischer Hinsicht ein dynamischer Begriff ist. Mit Hilfe der visuellen Analyse, die für die späteren Lieder angewandt wurde, konnten gewisse musikalische Gestalten erkannt werden, die durch auditive Analyse nicht wahrnehmbar waren. Bei der Wahrnehmung Neuer Musik wäre also nicht in jedem Falle die auditive Rezeption die einzig adäquate Methode. Deshalb irrt auch ADORNO (1962), wenn er meint, er könne dem Experten das strukturelle Hören zumuten. Selbst SCHÖNBERG äußert sich in einem Brief (SCHÖNBERG1950/1976/1992, 58) aus dem Jahre 1945 ähnlich , daß er - in Übereinstimmung mit Brahms - "sich weigerte, ein Stück zu beurteilen, von dem er nicht die Noten gesehen habe". Offensichtlich war er nicht in der Lage, sämtliche strukturellen Details hörend aufzunehmen. (VOGEL 1975, S. 261) Bei Schönberg ist auch unklar, ob er visuell oder auditiv denkt, z.B. wenn er im Zusammenhang mit den Begriffen Reihe und Krebs über Einheit des musikalischen Raumes spricht. HERZFELD (NZfM 1955/74) weist deutlich auf diese Unterscheidung hin:

"Der Krebs ist eigentlich kein akustisches Phänomen."

Es kann also - wie oft in der Musiktheorie - zu visuell bedingten Irrtümern oder Mißverständnissen kommen: Der eine spricht von der Partitur als dem Sichtbaren, dem Kulturgut des Werkes als "musikalischem Material", der andere spricht von den akustischen Ereignissen als dem Unsichtbaren, dem Immateriellen, dem museal nicht Archivierbaren.

6. orale Kultur - Schriftkultur

Es wird interessant sein, diesem Phänomen nachzuspüren. So schreibt ZENDER (1991,106):

"Auge und Ohr erzählen verschiedene Geschichten über die Welt..,[denn die] Ohrenkünste und die Augenkünste spiegeln jeweils nur einen Teil menschlicher Weltwahrnehmung".

Jenseits der Musik ist dies besonders deutlich zu machen an den - jenseits dem Bemühen der Gebrüder Grimm wirkenden, nicht an schriftlicher Überlieferung orientierten - Märchenerzählern. Ihre Kunst ist nicht nur eine "zeitgenössische Kunst", sondern die "zeitnaheste Kunst", die im Bereich der Wortkünste denkbar ist. So haben die oralen Kulturen ihre eigenen künstlerischen Qualitäten, die sich von denen der Schriftkultur u.U. stark unterscheiden (ASSMANN 1983, ONG 1982, WENZEL 1995).

Eine analoge Situation gab es in der Musik vor der Erfindung der Notenschrift (ZENDER 1996,19) wie die Aussage von Isidor von Sevilla (+630) zeigt:

"Wenn die Töne vom Menschen nicht mit dem Gedächtnis festgehalten werden, vergehen sie, weil sie nicht aufgeschrieben werden können." (LUG 1983)

In der im Jahre 789 verfaßten "admonitio generalis" (FELBICK 1994) von Karl dem Großen sind die ersten Impulse für die zunehmende Verschriftlichung von Musik zu erkennen. Er ermahnt darin u.a. die Geistlichen, sich mit den sog. "notas" zu beschäftigen. Bekanntlich sind schon kurz darauf die ersten Neumen überliefert.

Das Bestreben dieser karolingischen Reformidee ist auf den christlichen Wunsch zurückzuführen, sich die Erde untertan zu machen, denn die bekannte Bibelstelle (1. Mose 1,28) wurde offensichtlich so interpretiert, daß nicht nur die materielle Welt, sondern auch die Geisterwelt durch den Menschen gebannt werden sollte. Es konnte nämlich Karl dem Großen keinesfalls recht sein, daß die liturgischen Gesänge in seinem Reich von völlig unterschiedlichen Geistern durchdrungen waren. Sein Ziel war es, seinen Hof zu einem "Neuen Rom" werden zu lassen und damit das Christentum noch besser in einen beherrschbaren Staatsapparat zu integrieren. So mußten also die Geister der Musik durch die Verschriftlichung, die er initiierte, kontrollierbar sein. Der Geist mußte "in die Flasche gebannt" werden. Es läßt sich von ihm eine historische Entwicklung bis zur seriellen Musik aufzeigen, in der Musik in allen Parametern beherrschbar werden sollte.

"Es besteht [einerseits] kein Zweifel darüber, daß im Musikdenken unseres Jahrhunderts,... eine starke Verlagerung vom Gehörsmäßigen ins Optische erfolgt ist." (KOLNEDER 1962,66) Ein Phänomen dieses Faktums ist beispielsweise die Komposition MO-NO von D. Schnebel, die nur in Schriftform vorliegt und für die eine akustische Realisierung nicht vorgesehen ist.

Andererseits ist aber ebenso eine Bewegung zu spüren, die sich gegen die Dominanz des Schriftlichen und seiner Traditionen und Dogmen auflehnt. Schon Debussy beispielsweise ignoriert das "qui locutus est ad patres nostros" und das "sola scriptura", die überlieferten Autoritäten und die sich in den vom Akademismus anerkannten Schriften dokumentierenden Wahrheiten. Er beruft sich ausschließlich auf sein individuelles Hörempfinden: "Es gibt da keine Theorie. Das Ohr allein ist maßgebend, und wenn es klingt, ist es erlaubt!" (DECSEY 1936)

Ein ähnliche Auffassung ist bei Cage festzustellen, indem er sich konsequent für die Befreiung der musikalischen Geister eingesetzte. Sowohl in einigen aleatorischen Kompositionen als auch in der Improvisation könnten die Qualitäten der oralen Kulturen erlebt werden.

7. Improvisation - Komposition

Der populärste Hörforscher der Bundesrepublik, BEHRENDT (1985), formuliert in der ihm eigenen plakativen Weise: "Wer hört, improvisiert". Unbestritten tragen sowohl Kompositions- als auch Improvisationsversuche, und seien sie auch noch so unvollkommen (!),  (SCHÖNBERG 1950/1976, 101 bzw. 140) am besten dazu bei, innere Klangvorstellungen umzusetzen und zu entwickeln; andererseits wird derjenige, der innere Klangvorstellungen hat, den Wunsch haben, diese umzusetzen. Leider hat man allerdings in unserer heutigen, vom Wettbewerb geprägten desolaten Musikkultur schneller Erfolg, wenn man Kompositionen von anderen nachspielt. Das führt zu der paradoxen Situation: "Vom Instrumentalisten wird [heute] nicht verlangt, daß er Musik macht." (BAILEY 1987, 148) Das war nicht immer so. WERCKMEISTER (1698, Cap. 32) meint, man solle "nicht jedem Prahler alsobald glauben" nur weil er in der Lage ist, etwas nach Noten auswendig vorzutragen, denn das extempore-Spiel sei sehr wichtig und es sei "nicht genug, daß man sich mit anderen Federn schmücke." (WERCKMEISTER 1702, §128)

Heute sind - neben einigen wenigen befähigten Organisten und Komponisten - die Jazzmusiker diejenigen, die die Kunst der Improvisation (BAILEY 1987) noch ausüben. Basis der Gehörbildung und Hörerziehung müssen also wieder Elemente werden, wie sie in den oralen Kulturen gepflegt werden! Sollten wir nicht die Chance eines interkulturellen Austausches nutzen, daß wir die wenigen Restelemente der oralen Kulturen achten und pflegen? Es ist angesagt, die Verbannung der afro-amerikanische Musik an deutschen Konservatorien und Musikhochschulen, wie dies leider noch zu oft geschieht, endgültig aufzuheben und ihre Qualitäten zu erkennen.

C) Konsequenzen

Aus den Ausführungen geht hervor, daß die derzeitigen Ausbildungsstrukturen dem Wandel des Musikverständnisses noch nicht Rechnung getragen haben. Sie verhindern das adäquate Verständnis von Neuer Musik und außereuropäischer Musik: Der Begriffswirrwar ist im übrigen Anlaß für eine Fülle von unseligen und überflüssigen Anfeindungen und Polemiken. Die Ausbildung der improvisatorischen Fähigkeiten nehmen im allgemeinen einen zu geringen Raum ein. Deshalb sei - bei allen Überschneidungen, die selbstverständlich auch hier absolut erforderlich sind - die folgende Alternative vorgeschlagen:

Adäquate Unterrichtsstruktur für die Musiktheorieausbildung im 20./21. Jahrhundert

A) Musikverständnis

  1. auditive Analyse
    1. Gehörbildung
      1. Rhythmusdiktat
      2. Tonika-Do-Methode
      3. Funktionstheorie in Anlehnung an einige Grundgedanken Riemanns
    2. Hörerziehung
      1. auditive Formen- und Gestaltungslehre bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
      2. auditive Gestaltungsprinzipien in der Musik des 20. Jh.
  2. visuelle Analyse/Stilkopien
    1. Kontrapunkt/Harmonielehre
    2. visuelle Formenlehre
    3. visuelle Gestaltungsprinzipien in der Musik des 20. Jh.
  3. Rezeption und Ästhetik

B) Improvisation

  1. Handwerkliches Wissen
  2. Improvisationsmethoden

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